Die Rache der Liebe
gegeben, selbst dann nicht, als sie ihn abermals fragte. Sie vermutete, er sei der Auffassung, sie benötige ebenfalls etwas Auslauf und Körpertraining. Und damit lag er nicht falsch. Sie machte nichts anderes, als Stunde um Stunde in ihrer Ecke zu sitzen, aus Angst, er könne ihr verbieten, sich in seinem Zimmer frei zu bewegen, und gleichzeitig aus dem Vorsatz heraus, ihn um nichts zu bitten.
An jenem Tag war sie zum ersten Mal dicht hinter ihm gestanden und war sich erneut seiner enormen Größe bewußt geworden. Natürlich hatte sie ihn schon öfter aufrecht gesehen, aber noch nie aus nächster Nähe. Und das bloße Wissen um seine Größe besaß eine völlig andere Qualität, als seine Größe wirklich zu spüren. Sie war selbst keine kleine Frau, zumindest nicht im Vergleich zu den angelsächsischen Frauen, die sie allesamt leicht überragte. Einzig Kristen war wenige Fingerbreit größer als sie. Selig hingegen überragte Erika um gut einen Fuß, und diese Größe wirkte nun, da seine Kräfte allmählich wiederkehrten, ziemlich einschüchternd.
Einen Tag würde sie nie vergessen: Es war an einem späten Nachmittag, Selig schlief, und außer Erika war niemand im Raum, der seinen Alptraum miterlebte. Sie war selbst ein wenig eingedöst; die schwüle, drückende Hitze hatte sie müde gemacht, und auch das weit geöffnete Fenster bot keine Erfrischung.
Plötzlich wurde die Stille von einem schmerzerfüllten Stöhnen unterbrochen. Erika riss die Augen auf. Solch einen Laut hatte sie von Selig noch nie vernommen. Sie merkte oft, wenn Seligs Kopf schmerzte, auch ohne dass er einen Ton verlauten ließ. Dieses qualvolle Stöhnen nun versetzte sie in Alarm, und ehe sie merkte, was sie da machte, stand sie auch schon an seinem Bett. Gleich darauf schalt sie sich für ihre Reaktion und schickte sich an, wieder in ihre Ecke zurückzukehren. Sollte Loki ihn doch zu sich holen! Was kümmerte es sie? Keinen Finger würde sie rühren, um ...
Ein leises Murmeln ließ sie innehalten und zum Bett zurückschleichen. Sie sah sofort, dass er nicht zu ihr sprach, sondern träumte. Es muss te ein unangenehmer Traum sein, da er seinen Kopf wild von einer Seite zur anderen drehte, als versuchte er, etwas abzuwehren. Unvermittelt donnerte seine Faust auf das Bett. Noch so ein Schlag, und das Bett würde zusammenbrechen.
Sie be schloss , ihn aufzuwecken, ehe er sich eine Verletzung zuziehen würde. Ihr Entschluß entsprang nicht ihrem Gefühl für Anstand. Es hatte auch nichts damit zu tun, dass sie niemanden leiden sehen konnte, nicht einmal ihn. Nein, eine neue Verletzung hätte zur Folge, dass sie diesen Raum noch länger mit ihm teilen müss te. Und deswegen, nur deswegen beugte sie sich nun über das Bett und rüttelte ihn sanft an der Schulter.
Doch als sie so nah über seinem Gesicht war, konnte sie seinem Gemurmel einzelne Wörter entnehmen: »Nein, nicht mehr ... kein Lachen mehr! ... Hör auf damit! ... Du muss t damit aufhören! «
Schlagartig wurde Erika bewußt, dass er von ihr träumte, und sie versteifte sich. Er hatte ihr versprochen, sie würde nie wieder lachen. Das war sein Ziel - ihr solche Qualen zuzufügen, dass sie nie wieder an irgendetwas Freude finden könnte. Doch in seinem Traum schien er damit nicht allzu erfolgreich zu sein, denn sonst wäre er nicht so gepeinigt.
Am liebsten hätte sie ihn weiterträumen lassen. Aber wenn er sich tatsächlich verletzen würde, wäre das für sie auch keine Hilfe. Also schüttelte sie ihn abermals, wenn auch, aufgrund ihrer neuen Erkenntnisse, weniger sanft und erzielte ein überraschendes Ergebnis.
Er schlug die Augen auf, starrte blicklos ins Leere. Seine Hand erhob sich und packte Erika am Hinterkopf. Und ehe sie wußte, wie ihr geschah, wurde sie auch schon zu ihm hinuntergezogen und ge küss t.
Dieser Kuss glich in nichts dem, was sie je erwartet oder gar erträumt hatte. Sie spürte seinen Zauber bis in ihre Fußspitzen. Dahin schwand jeglicher Kummer, jegliche Angst. Dafür war kein Raum mehr vorhanden, denn diese zahllosen neuen Gefühle erforderten ihre ganze Aufmerksamkeit. Seine Lippen lagen auf den ihren, kosteten, leckten, knabberten und erzwangen sich schließlich einen Eingang für seine Zunge.
Feuchte Hitze, seidenweiches Schmecken, ein Wirbel an ungeahnten Empfindungen. Erika vergaß zu atmen. Sie dachte auch nicht mehr daran, ihre Arme vor der Brust zu kreuzen, sondern drängte sich gegen seine breite Brust.
Und das war vermutlich die Ursache,
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