Die Rache Der Wache
ein gewisser Mangel an Autorität, die für Ruhe gesorgt hatte, und schon kam es zu solchen Vorfällen. Aber diese Dame war etwas völlig Ungewöhnliches — wie es auch das Einhorn früher gewesen war. Eine Dame, eine Fremde hier. Die dunklen Gewänder, ihr feiner Stoff und Schnitt, reizten den Spielmann in ihm. Wie von selbst bewegten seine Finger sich auf der Tischplatte mit den feuchten Ringen. Er dachte an ein Lied und zupfte an den imaginären Saiten seiner Laute, die er (wieder einmal) im Pfandhaus hatte, und er dachte — merkwürdigerweise — an Hanse Nachtschatten, in einem völlig belangslosen Gedankengang, so wie Hanse ihm heute den ganzen Tag nicht aus dem Kopf gegangen war. Sjekso tot, Hanse spurlos verschwunden, und es wurde Nacht ... Ganz bestimmt hatte Hanse etwas vor. Er war heute weder gesehen noch gehört worden, und man raunte etwas im Einhorn, das immer glaubhafter wurde: von Rache munkelte man, und es fehlte nicht viel, daß Wetten abgeschlossen würden, wer überleben würde — Mradhon Vis oder Hanse —, falls die beiden aufeinanderstießen. Und von noch mehr sprach man: von einem Blinden, der sich ohne Hilfe im Einhorn zurechtgefunden und Hanse geradezu hinter sich hergezogen hatte — ein Blinder, aber kein Bettler, ein Mann, den man mit finsteren Geheimnissen zu umgeben begann.
Es war eine, gelinde gesagt, unangenehme Geschichte. Cappen war nicht blutrünstig. Daß Hanse hinter Vis herpirschen sollte — er fand es unwahrscheinlich. Hanse war aufbrausend und prahlerisch. Wenn jemand pirschte, dann schon eher Vis. Hanse wäre schlecht beraten, dem Burschen mit dem finsteren Gesicht nachzujagen — es würde Hanse ganz gewiß mehr Unannehmlichkeiten einbringen, als er wollte. Schon eher glaubte er, daß Hanse sich irgendwo verkroch, falls Vis ihn noch nicht erwischt hatte. Cappen griff nach seinem Becher. Plötzlich verengten sich seine Augen. Zwar zögerte die Hand nicht, die den Becher an die Lippen führte, aber er trank sehr langsam und nachdenklich: Er sah zu, wie ein zweiter Mann versuchte die Dame anzusprechen.
Dieser Mann war Mradhon Vis! Ruhig trat er an den Tisch — und wurde nicht abgewiesen. Die Dame hob Gesicht und Augen zu ihm. Wahrhaftig eines Liedes wert, dieses Gesicht, so dunkel und ernst es auch war. Und als ihre Augen zu Mradhon Vis hochblickten, stand die Dame schweigend auf und schritt in Vis' stummer Begleitung zur Hintertür der Gaststube. Nur ein paar Köpfe wandten sich ihnen gleichmütig zu. Cappen jedoch verspürte ein leichtes Kribbeln im Nacken, ein Gefühl, das er gut kannte. Seine Finger legten sich um das Amulett an seinem Hals: eine zusammengerollte Silberschlange — ein Geschenk, ein Schutz gegen Zauber, und wirksamer als die meisten von Priestern geweihten Amulette — auf seine Art, natürlich. Voller Unbehagen, das um so größer war, weil niemand sonst in der Schenke es zu bemerken schien, sah er, wie Mradhon Vis und seine finstere Begleiterin sich bewegten, in gemeinsamer Absicht und seltsamer Drohung.
Das Grauen wandelte seit einiger Zeit durch Freistatt. Menschen starben, und ihr Tod ließ einen unwillkürlich daran denken, sich Zauberschutz zu beschaffen und froh zu sein, wenn man ihn hatte. Denn wo die Großen und Mächtigen einen plötzlichen Tod fanden, mußten dunkle Mächte dahinterstecken, noch bedacht in ihrer Wahl der Opfer, aber vielleicht nicht immer. Da war Sjekso Kinzan gewesen, weder groß noch mächtig. Cappen fragte sich, ob ein Amulett wie seines ihn schützte oder im Gegenteil auf ihn aufmerksam machte. Und als die Dame mit Mradhon Vis an seinem Tisch nahe der Tür vorbeikam ...
Einen Moment blickte Cappen hoch und die Dame zu ihm hinab, und es war mehr in ihrem Blick, als ihm gefiel. Und nun war das Prickeln um das Amulett ganz stark, während er mit dem Gefühl tödlicher Gefahr in diesen dunklen Augen zu versinken schien. Ihm war, als hinge sein ganzes Leben in der Schwebe und der geringste Anlaß könne es ihm rauben. »Ihr seid schön«, murmelte er, denn wenn das Amulett wirken sollte, mußte er drei Wahrheiten äußern. »Ihr seid gefährlich — und fremd hier.«
Sie blieb kurz stehen, griff nach seinem Becher auf dem Tisch, nippte daran, setzte ihn wieder ab, und alles mit einer Spur gespenstischer Belustigung oder Drohung, die gegen ihn gerichtet war. Gegen ihn, der als einziger in der Schenke, außer Mradhon Vis — oder konnte er nicht mitgezählt werden? — sie mit klarem Kopf sah und mit dem irritierenden
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