Die Rache des Samurai
Anflug ängstlicher Beklommenheit. Er mußte noch viel über das Leben im Herzen des Tokugawa -bakufu lernen – der Militärregierung des Shōgun und seiner Räte, die das Land beherrschte. Sano fragte sich, ob er wohl einen Fehler beging, indem er versuchte, gleichzeitig seinem Herrn und seinem Vater zu dienen? Der Gedanke erschien ihm skurril.
Sano ging über die gebohnerten Zypressenholz-Fußböden des Flures, der durch den äußeren Teil des Gebäudes führte und an dem sich Schreibstuben von Regierungsbeamten befanden. Er versuchte, sich sein Unbehagen nicht anmerken zu lassen. Doch sein Herz klopfte wild, und vor innerer Unruhe wurden seine Hände klamm. Als er die schwer bewachten Türen erreichte, die ins Nō-Theater führten, blieb er stehen und machte sich für die Begegnung mit dem höchsten Militärdiktator des Landes bereit.
» Sōsakan Sano Ichirō«, sagte er zu den Wachen. »Ich bin zu Seiner Hoheit befohlen.«
Die Wachen verbeugten sich, schoben die Türen auf und traten zur Seite, um den Besucher hindurchzulassen. Sano kämpfte seine Anspannung nieder und trat durch den Türeingang.
Er gelangte auf eine Veranda, von der man über einen großen, kiesbedeckten Hof schauen konnte, welcher von reihenförmig angepflanzten Kiefern umstanden war. Auf der linken Seite des Hofes stand die Nō-Bühne: eine erhöhte, überdachte Plattform aus Holz mit einem Zugang zur Linken; die vier Säulen, die das Dach trugen, wiesen nach rechts. Im hinteren Teil der Bühne saßen drei Trommler und zwei Flötisten und spielten eine feierliche, altertümliche Melodie. Ein gemalter Kiefernbaum bildete, wie im Nō-Theater üblich, die einzige Kulisse. Auf der Bühne lag wie schlafend ein Schauspieler, der den gestreiften Umhang eines Wandermönchs trug; der Chor und die anderen Schauspieler saßen in den Flügeln des Bühnenaufbaus. Sano wandte seine Aufmerksamkeit jenem Mann zu, dem zu dienen er geschworen hatte.
Die Schiebetüren des Gebäudes, das der Bühne gegenüber stand, waren offen. Im Inneren saß Tsunayoshi, der fünfte Tokugawa-Shōgun, auf einem Podium, das mit Stapeln von Kissen bedeckt war. Der Shōgun trug einen prächtigen Kimono aus Seide in goldenen, braunen und cremefarbenen Schattierungen unter einem schwarzen Überrock mit breiten, wattierten Schulterstücken; dazu die runde schwarze Mütze, die seinen Rang kennzeichnete. Er hielt einen geschlossenen Fächer in den Händen und lächelte, wobei er im Takt der Musik mit dem Kopf nickte. Sano hatte gehört, daß Tsunayoshi das Nō-Theater über alle anderen Künste stellte, die er förderte. Er schien die gelangweilten Mienen der zehn Gefolgsleute nicht zu bemerken, die zu beiden Seiten des Podiums knieten und gezwungen waren, gemeinsam mit ihrem Herrn die Aufführung zu verfolgen.
Sano war erstaunt, als er Tokugawa Tsunayoshi betrachtete: Der Shōgun sah kleiner und freundlicher aus, als er ihn in Erinnerung hatte; überdies wirkte er älter als seine dreiundvierzig Jahre. Sano mochte kaum glauben, daß er einen Nachkommen des großen Tokugawa Ieyasu vor sich hatte, der vor weniger als hundert Jahren als Sieger aus den erbitterten Kämpfen rivalisierender Adelsfamilien hervorgegangen war und das Land unter seine Herrschaft gebracht hatte. Doch Tsunayoshi beherrschte die Instrumente der Macht, die er geerbt hatte. Sein Wort war Gesetz, und er besaß die Gewalt über Leben und Tod seiner Untertanen.
Ein junger Schauspieler mit einem Schwert in der Faust kam aus der Garderobentür, vor der ein Vorhang hing, und stieg den Gang zur Bühne hinauf. Er trug eine wallende schwarze Perücke, eine hohe schwarze Kappe, dazu einen Umhang aus goldenem Brokat und einen weiten, scharlachroten Hosenrock. Er nahm auf der linken Seite der Bühne Aufstellung. Dann vollführte er einen langsamen, stilisierten Tanz und sang dazu die Verse:
»Getrieben von meiner Schmach auf Erden,
komme ich im geisterhaften Gewande
Zu dem Ort, an dem ich starb,
Und nehme die Gestalt an,
Die auf Erden ich besaß,
Um diesem schlafenden Mönch
Meine Geschichte zu erzählen,
Die längst vergangen ist.«
Sano erkannte das Stück als Tadanori , das der große Bühnendichter Zeami Motokiyo vor fast dreihundert Jahren geschrieben hatte. Tadanori, der Fürst von Satsuma, war ein Dichter und Krieger aus der Adelsfamilie Heike gewesen. Als das Kaiserhaus eine Sammlung großer Werke der Dichtkunst zusammenstellen ließ, war eines von Tadanoris Stücken darin aufgenommen worden, doch ohne
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