Die Rache des Samurai
daß der Verfasser genannt wurde; denn die Heike wurden als Aufrührer betrachtet. Tadanori fiel in der Schlacht und beklagte sich bitter, daß sein Name nicht im Großen Buch der Dichtkunst genannt wurde. In dem Schauspiel erzählte Tadanoris Geist einem Wandermönch seine traurige Geschichte:
»Es ist wohl wahr, mein Gedicht
Wurde für das Große Buch erwählt,
Aber, ach! Weil es meinem Herrn mißfiel
Trug es nicht meinen Nam…«
Laut klatschte der Shōgun mit dem Fächer auf das Podium. Der Schauspieler verstummte schlagartig und hielt in seinen Tanzbewegungen inne.
»So nicht«, rief Tokugawa Tsunayoshi, »sondern so!« Dann sang er die Verse selbst, mit hoher, näselnder Stimme, die in seltsamem Kontrast zu seiner machtvollen und herausragenden Stellung stand. Im Vergleich zur Darbietung des Schauspielers konnte Sano keinerlei Verbesserung erkennen, doch das Publikum tat seinen Beifall durch pflichtschuldiges Murmeln kund. »Aber macht Euch nichts daraus, äh … Ihr könnt gehen. Der nächste!«
Der Schauspieler schlich von der Bühne. Die Musik setzte wieder ein, und ein anderer Darsteller kam aus der Garderobe und trat an die Stelle seines Vorgängers. Erst jetzt erkannte Sano, daß dies gar keine Vorstellung war, die von der Berufsschauspielertruppe des Shōgun gegeben wurde, sondern eine Vorsprechprobe für Amateure, an der jene Gefolgsleute und Angehörige der Daimyō-Klans teilnahmen – der Adelsfamilien, die in den Provinzen des Landes regierten –, die sich durch ihre Darbietungen beim Shōgun einschmeicheln wollten.
Sano kam ein plötzlicher, erschreckender Gedanke. Wollte Tsunayoshi, daß auch er vorsprach?
Sein Traum, im Dienst des Shōgun irgendeine wagemutige Tat vollbringen zu können, verflog, und unwillkürlich trat er einen Schritt zurück. Der Shōgun bemerkte ihn und winkte ihm zu.
»Ah, sōsakan Sano«, rief Tokugawa Tsunayoshi. »Kommt näher.« Dann wandte er sich an die Musiker und Schauspieler: »Zieht euch zurück, bis ich euch wieder rufen lasse.«
Die Männer auf der Bühne verbeugten sich, schritten den Gang hinunter und verschwanden in der Garderobe. Befangen angesichts der neugierigen Blicke der zuschauenden hohen Beamten, kam Sano über den Hof und kniete vor dem Podium nieder.
»Ich erwarte Eurer Hoheit Befehle«, sagte er und verbeugte sich so tief, daß seine Stirn den Boden berührte.
»Erhebt Euch«, befahl der Shōgun, »und kommt näher.«
Sano gehorchte. Seine Knie zitterten so heftig, daß er sie zusammenpreßte, als Tsunayoshi ihn betrachtete. Als Sano einen direkten Blick auf den Shōgun riskierte, war er nicht erstaunt darüber, in den freundlichen Augen Tsunayoshis kein Anzeichen des Wiedererkennens oder der Verwunderung auf dem schmalen, aristokratischen Gesicht zu sehen. Wenn er selbst schon vergessen hatte, wie die Züge des Shōgun aussahen, dann war es kein Wunder, daß der Diktator auch Sanos Gesicht vergessen hatte.
»Nun, äh …«, sagte Tsunayoshi schließlich. »Ihr scheint mir ein Samurai zu sein, der über Klugheit und körperliche Tüchtigkeit verfügt – genau richtig für die Aufgabe, die ich zu vergeben habe. Offen gestanden, kann ich mir gar nicht erklären, daß ich Eure Dienste bislang nicht in Anspruch nahm.«
Er ließ den Blick über seine Gefolgsleute schweifen, die zustimmend nickten und ein unverfängliches Murmeln von sich gaben.
»Wie dem auch sei, jetzt werde ich’s tun«, fuhr der Shōgun dann fort. »Gestern abend wurde Kaibara Tōju ermordet. Ihm wurde der Kopf abgeschlagen und wie eine … äh … Kriegstrophäe präpariert.«
Nicht nur die Art und Weise des Verbrechens war ein Schock für Sano, auch die Person des Opfers. Abgehackte Köpfe als Trophäen zu nehmen war eine alte Kriegstradition, an die man sich in Friedenszeiten üblicherweise nicht hielt. Und Kaibara Tōju war ein erblicher Gefolgsmann der Tokugawa – einer von vielen Soldaten, dessen Familie der des Shōgun seit Generationen diente und die in seinem riesigen Kaiserreich hohe und altehrwürdige Ämter innehatten.
Doch keine dieser Neuigkeiten beunruhigte Sano so sehr wie die beängstigende Erkenntnis, daß der Shōgun ihn mit der Untersuchung des Mordes beauftragen wollte. Denn bei dem ersten und einzigen anderen Mordfall, den Sano bislang gelöst hatte, waren zu viele Leben zerstört worden, und zu viele Menschen hatten sterben müssen. Doch gegen Sanos Willen regte sich zugleich gespanntes Interesse in seinem Inneren. Eine Woge ängstlicher
Weitere Kostenlose Bücher