Die Rache des Samurai
habe Kaibara gestern abend allein auf der Straße gesehen. Ein anderer Wächter hat berichtet, daß er einen Mann in einem Umhang und mit Hut beobachtet hat, der möglicherweise einen Korb bei sich trug. Aber wegen der Dunkelheit konnte der Posten das Gesicht des Mannes nicht richtig erkennen.«
Düster starrte Hirata auf die Brücke, die über den Wassergraben zum Haupttor führte. Über den hoch aufragenden Steinmauern stachen die Wachtürme und der Bergfried des Palasts schwarz in den helleren, sternengesprenkelten Abendhimmel. Fackeln brannten auf dem Palasthügel: flackernde Wogen in einen Meer der Dunkelheit.
»Eigentlich wollten wir heute einen größeren Bereich durchsuchen, aber da wir nur zu viert sind, geht es sehr langsam voran.«
»Ihr habt trotzdem gute Arbeit geleistet«, sagte Sano zu Hirata, der daraufhin die Schultern straffte und ein Lächeln zustande brachte. Der junge dōshin hatte Sano wenigstens den langwierigen Fußmarsch und die vielen Befragungen erspart. »Und wir haben eine neue Spur.« Sano berichtete Hirata vom Mord an dem Eta. »Deine Männer sollen die Suche fortsetzen. Wir treffen uns morgen früh, zur Stunde des Drachen, am Haus Kaibaras im banchō .« Es war das Stadtviertel im Westen des Palasts, wo die hatamoto der Tokugawa wohnten – die ›Bannerleute‹ des Shōgun, die über kleinere Lehen verfügten.
»Und noch etwas, Hirata«, fuhr Sano fort. »Der Mord an dem Eta bedeutet, daß sich niemand mehr sicher fühlen kann, bis wir den Täter gefaßt haben. Auf dem Weg hierher habe ich an jedem Tor haltgemacht und die Wachposten angewiesen, jeden anzuhalten, zu durchsuchen und namentlich zu notieren, der nach Einbruch der Dunkelheit durch die Tore kommt. Außerdem habe ich den Vorstehern sämtlicher Wohnviertel, durch die ich gekommen bin, den Befehl erteilt, von Anbruch der Dunkelheit bis zur Morgendämmerung eine bewaffnete Bürgerwehr durch die Straßen patrouillieren zu lassen. Sorge dafür, daß auch im Südwesten von Nihonbashi so verfahren wird. Sieh zu, daß du dort noch möglichst viele Wohnviertel-Vorsteher verständigst, bevor die Tore geschlossen werden. Wir dürfen die Leute nicht in Panik versetzen, aber wir müssen sie warnen und schützen.«
Falls Hirata zornig darüber war, nach einem langen Tag nun auch noch bis in den späten Abend hinein arbeiten zu müssen, so ließ er es sich nicht anmerken. Er nickte knapp und sagte: »Jawohl, sōsakan-sama .«
Sie verabschiedeten sich, und Sano beobachtete, wie der junge Mann davoneilte, zwischen den dichten Gruppen von Samurai hindurch, die sich auf dem Nachhauseweg befanden. Auf der anderen Straßenseite erhoben sich die hohen steinernen Mauern der großen Daimyō-Anwesen. Befand der Mörder sich irgendwo dahinter? Oder durchstreifte er bereits die Straßen, auf der Suche nach seinem nächsten Opfer?
Obwohl die Nachforschungen an diesem Tag keine greifbaren Hinweise erbracht hatten, erwachte Sanos Jagdinstinkt. Unter der Oberfläche des geordneten, kontrollierten Lebens in Edo spürte er die Anwesenheit von etwas Bösem, das auf dem Sprung stand – bereit, jeden Augenblick Gewalt und Tod zu bringen.
»Wo du auch sein magst, ich werde dich finden«, schwor Sano sich mit lauter Stimme.
Als er die Brücke überquerte und durch das Haupttor des Palasts ritt, um dem Shōgun Bericht zu erstatten und sich später mit Aoi zu treffen, wünschte er sich, den eigenen Worten glauben zu können.
Bewaffnete Posten ließen Sano in die private Empfangshalle des Shōgun ein, in der Laternen verschwenderisch vergoldete Wandgemälde beleuchteten, die blühende Pflaumenbäume und blaue Flüsse zeigten; Blumenmuster in leuchtenden Farben füllten die Leerräume zwischen den Fachwerkbalken aus Kiefernholz an der Decke, und vertieft in den Fußboden eingelassene Kohlebecken vertrieben die abendliche Kühle.
»Ah, sōsakan Sano«, sagte Tokugawa Tsunayoshi, der sich auf den üppigen seidenen Kissen streckte, mit denen sein Podium gepolstert war. In dem sanften Licht schimmerten seine prächtigen Gewänder, und sein Gesicht wirkte jünger und lebhafter. »Kommt, ruht Euch von der Arbeit aus. Die Frühlingsluft kann … äh … ebenso anregend wie ermüdend sein.«
»Ja, Hoheit.«
Sano kniete vor dem Podium nieder. Von drei Leibwächtern abgesehen, die wie stumme Schatten an der Tür standen, sowie drei gleichfalls schweigenden Dienern, die auf Befehle ihres Herrn warteten, war Sano mit Tsunayoshi in dem Raum allein. Es machte ihn
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