Die Rache des Samurai
Farbton angenommen und stand in einem ebenso deutlichen wie gräßlichen Kontrast zu der dicken Warze auf der Nase, die sich dunkel verfärbt hatte. Die Lippen waren geschrumpft und entblößten gelbe, unregelmäßige Zähne. Aus dem kurzen dunklen Haar des Mannes hatte sich nur ein winziger Pferdeschwanz flechten lassen.
»Kein Etikett«, sagte Sano mit vor Übelkeit belegter Stimme. »Warum mag es bei dem hier fehlen?«
Doch wie der Kopf Kaibaras war auch dieser auf einem quadratischen Brett befestigt, und auf dem Gesicht des Toten waren noch immer Spuren von Wangenrot zu sehen. Unverkennbar waren dieser Mord und der an Kaibara von ein und derselben Person begangen worden.
»Wann wurde dieser Mann getötet?« fragte Sano den Arzt. »Und weiß die Polizei schon davon?«
Natürlich. Die Polizei mußte davon wissen, da der Kopf in die Leichenhalle gebracht worden war. Wie hatte Hayashi es wagen können, ihm, seinem Vorgesetzten, Informationen vorzuenthalten! Heißer Zorn stieg in Sano auf.
»Der Kopf wurde vor zehn Tagen auf meine Bitte hin von den Leichenträgern hierhergebracht«, sagte Doktor Ito. »Und ich bezweifle sehr, daß die Polizei von diesem Mord in Kenntnis gesetzt wurde.«
»Warum?« Sano riß den Blick von der gräßlichen Trophäe los und schaute den Freund an.
Doktor Ito tauschte einen Blick mit Mura. »Das Opfer war ein Eta«, sagte er.
»Oh. Verstehe.« Sanos Zorn und Verwirrung schwanden. Die Behörden beschäftigten sich so wenig wie möglich mit den gesellschaftlich Ausgestoßenen; die Polizei machte sich gar nicht erst die Mühe, Nachforschungen über den Mord an einem Eta anzustellen, mochte die Tat noch so ungewöhnlich und grausam gewesen sein. Ohne Doktor Itos wissenschaftliche Neugier wäre dieser Mord an einem Eta unbeachtet geblieben – und mit ihm sämtliche Hinweise, die er möglicherweise über den Täter liefern konnte. Sano empfand tiefe Dankbarkeit gegenüber dem Arzt, dessen Weitsicht und Hilfe sich als immer kostbarer erwiesen, je länger ihre Freundschaft währte.
»Danke, Ito -san «, sagte er.
»Was redet Ihr denn da?« Doktor Ito spielte den Verwunderten, doch das Funkeln in seinen Augen verriet Sano, daß er sehr wohl wußte, sich Dankbarkeit verdient zu haben.
»Mura hat mir von dem Mord erzählt«, fuhr er fort. »Der Ermordete wohnte in der Gegend, in der auch Mura zu Hause war. Da er eine übertrieben hohe Meinung hat, was meine Fachkenntnisse betrifft, hat Mura mich gebeten, ihm bei der Suche nach dem Mörder zu helfen. Aber leider habe ich als Gefängnisinsasse ja keine andere Möglichkeiten, als das Beweisstück zu konservieren. Es sei denn …«
Er bedachte Sano mit einem herausfordernden Blick.
»Es sei denn, ich helfe Euch.« Nachdenklich betrachtete Sano den bundori . »Vielleicht kann ich es. Falls ein und derselbe Täter beide Männer getötet hat, werde ich möglicherweise auf seine Fährte stoßen, wenn ich diesen Mordfall hier genauer untersuche.« Er wies auf den Kopf des Eta.
Auf Sanos Bitte schnitt Mura dem ermordeten Eta eine Haarsträhne ab und wickelte sie in Papier ein, so daß Sano die Strähne zu Aoi bringen konnte. Dann verabschiedete er sich von Doktor Ito. Die Möglichkeiten, die sich ihm nun wieder eröffneten, erfüllten ihn mit neuer Zuversicht – zugleich aber auch mit einem Gefühl des Unbehagens.
Kaibaras Enthauptung war kein Einzelfall. Der Mörder hatte zuvor schon seine Absicht bewiesen, mehr als nur ein Opfer zu töten – aus Gründen, die im dunkeln lagen –, und der Tokugawa- bakufu war nicht sein einziges Ziel.
In Edo lief ein Verrückter frei herum. Wie viele Menschenleben standen noch auf dem Spiel?
6
Ü
ber dem Tempelbezirk von Asakusa im Norden Edos stieg das kalte Zwielicht eines Frühlingsabends auf. Spitz oder gewellt zeichneten sich die Dächer der Heiligtümer und Tempel vor dem strahlenden, kirschroten Himmel ab. Glocken ertönten; ihre harmonischen Klänge hallten über die Hügel im Westen hinweg, und über den Fluß und die Stadt. In den Straßen, die den Bezirk kreuz und quer durchzogen, hingen leuchtende Papierlaternen von den Dachvorsprüngen der Gasthäuser, Läden und Eßstände, an denen sich die Pilger drängten, um sich nach ihren Reisen und Gebeten Unterkunft und Nahrung zu verschaffen. Mönche in orangefarbenen Umhängen strömten in die Klöster, um ihre abendlichen Riten zu vollziehen. Stimmen und Gelächter klangen auf; es herrschte eine heitere und friedvolle Atmosphäre.
Durch die
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