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Die Rache des Samurai

Die Rache des Samurai

Titel: Die Rache des Samurai Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Joh Rowland
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befangen und erfüllte ihn mit ehrfürchtiger Scheu. Dennoch erkannte er die einzigartige Gelegenheit, die Bekanntschaft mit diesem mächtigen Mann zu vertiefen, in dessen Händen sein Schicksal lag. Und Tsunayoshis Worte bewiesen, daß auch er die Gelegenheit nützen wollte, ihre persönlichen Beziehungen auszubauen.
    »Ihr seid Gelehrter, nicht wahr?« Als Sano bejahte, fragte der Shōgun: »Bei wem habt Ihr studiert? Und welche Wissensgebiete?«
    »Ich wurde von den Mönchen im Zōjō-Tempel ausgebildet, Hoheit«, antwortete Sano und entspannte sich allmählich. Trotz erheblicher finanzieller Probleme hatte sein Vater ihm die bestmögliche Ausbildung zukommen lassen. Was für ein Glück für mich, ging es Sano nun durch den Kopf, wenn man bedenkt, welch großen Wert der Shōgun auf Gelehrtheit legt! Er schickte ein stummes Dankgebet an den Geist seines Vaters. »Ich habe Literatur, Dichtung, Mathematik, Recht, Geschichte, politische Theorie und die chinesischen Klassiker studiert.«
    »Ein wahrhaft gebildeter Samurai!« Interesse flammte in Tsunayoshis Augen auf, und er beugte sich vor, lächelte und sagte voller gespannter Neugier: »Dann seid Ihr gewiß mit dem Buch der großen Gelehrtheit vertraut.«
    »Ja, Hoheit.« Sano nickte; die strengen Mönche hatten ihm lange Abschnitte dieses Buches regelrecht eingebleut. Doch er hatte nicht erwartet, daß der Shōgun ein Gespräch über Literatur führen wollte. Aber Sano blieb keine Wahl, als sich nach seinem obersten Herrn zu richten. Ihm waren Geschichten über Tsunayoshis Launenhaftigkeit zu Ohren gekommen. Ein Fehltritt konnte eine Katastrophe auslösen.
    Doch auch der Shōgun hatte sich offenbar entschlossen, zum Thema zu kommen. »Wir werden demnächst ein erbauliches Gespräch über die Klassiker führen«, sagte er, lehnte sich wieder zurück und setzte eine ernste Miene auf. »Nun denn. Welche Fortschritte habt Ihr bei Euren … äh … Nachforschungen über Kaibara Tōjus Ermordung gemacht?«
    In diesem Augenblick erklangen Schritte auf dem Flur. Draußen erteilte jemand einen Befehl, worauf die Wächter im Empfangszimmer die Tür öffneten. Sano drehte den Kopf und sah, wie Kammerherr Yanagisawa das Zimmer betrat. Er wurde von einem jungen, etwa vierzehnjährigen Samurai begleitet, der sein Haar auf eine Weise trug, die erkennen ließ, daß der Mannbarkeitsritus bei ihm noch nicht vollzogen war: Sein Scheitel war rasiert, doch er besaß noch eine lange, nach hinten gebundene Stirnlocke. Der Junge hatte ein hübsches Gesicht, so zart und lieblich wie das eines Mädchens.
    »Bitte verzeiht, daß ich Euch unterbreche, Hoheit.« Yanagisawa kniete sich neben das Podest des Shōgun und verbeugte sich. Der Junge tat es ihm gleich, hielt aber die Stirn an den Boden gedrückt, während der Kammerherr sich aufrichtete und fortfuhr: »Aber ich ging davon aus, daß Ihr heute abend gern Shichisaburō sehen möchtet.« Er zeigte auf den Jungen und fügte hinzu: »Ich glaube, Ihr habt unlängst Interesse an ihm bekundet.«
    Sano hatte von Shichisaburō gehört, dem derzeitigen Stern am Himmel der Nō-Theatertruppe des Shōgun. Der Knabe stammte aus einer berühmten Schauspielerfamilie, besaß großes Talent und war auf die Rollen von Samurai spezialisiert, wodurch sich seine Frisur erklärte. Natürlich würde der Shōgun, ein begeisterter Förderer der Künste, den Jungen gern sehen wollen – aber ausgerechnet heute abend? Erstaunt, daß Kammerherr Yanagisawa mit diesem Ansinnen zu einer solchen Unzeit beim Shōgun erschienen war, blickte Sano zum Podium.
    Tokugawa Tsunayoshi betrachtete Shichisaburō voller Entzücken. Seine Augen strahlten; die Lippen waren leicht geöffnet. Sano hatte die Geschichten über die Vorliebe Tsunayoshis für junge Männer gehört, noch bevor er in den Palast übergesiedelt war; angeblich besaß der Shōgun einen ganzen Harem schöner Schauspieler, Samurai und gemeiner Bürger. Nun erkannte Sano, daß diese Gerüchte der Wahrheit entsprachen. Abscheu stieg in ihm auf, der jedoch nicht den sexuellen Vorlieben Tsunayoshis galt. Gleichgeschlechtliche Liebe wurde von vielen Samurai praktiziert, die sie als einen Ausdruck des bushidō betrachteten. Nein – Sano war vielmehr betroffen darüber, daß sich ein weiteres Gerücht, das über den Shōgun kursierte, als zutreffend erwies: Tsunayoshi ließ sich durch seinen erotischen Zeitvertreib von seinen Amtsgeschäften ablenken. Selbst ein Ausspruch seines Vaters konnte nichts daran ändern, daß

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