Die Radleys
steht unter Spannung wegen der Geheimniskrämerei. Ihr Ehemann gibt einen merkwürdig gegähnten Seufzer von sich und kuschelt sich an sie.
»Was um alles in der Welt tust du da?«
»Ich versuche, dich zu küssen«, sagt er.
»Bitte, Peter«, sagt sie, Kopfschmerz pocht hinter ihren Augen. »Es ist mitten in der Nacht.«
»Im Gegensatz zu all den anderen Zeiten, zu denen du auch nicht von deinem Ehemann geküsst werden möchtest.«
»Ich dachte, du schläfst.«
»Habe ich auch. Ich habe geträumt. Einen ziemlich aufregenden Traum. Einen nostalgischen, genauer gesagt.«
»Peter, wir könnten die Kinder wecken«, sagt sie, obwohl sie weiß, dass bei Rowan noch Licht brennt.
»Komm schon, ich will dich bloß küssen. Es war so ein schöner Traum.«
»Nein. Du lügst. Du willst mehr. Du willst …«
»Na und, weshalb machst du dir Sorgen? Wegen der Bettwäsche?«
»Ich will einfach nur schlafen.«
»Was hast du gemacht?«
»Ich war auf der Toilette.« Sie hat sich an diese Lüge so sehr gewöhnt, dass sie ihr nichts mehr ausmacht.
»Deine Blase. Sie wird immer schwächer.«
»Gute Nacht.«
»Erinnerst du dich noch an die Bibliothekarin, die wir mit nach Hause genommen haben?«
Sie kann das Lächeln in seiner Frage hören. »Mein Gott, Peter. Das war in London. Wir reden nicht mehr über London.«
»Aber wenn du an Nächte wie diese denkst, macht dich das nicht …«
»Nein. Das war in einem anderen Leben. Daran denke ich nie.«
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EIN PLÖTZLICHER SCHMERZ
Am Morgen, kurz nach dem Aufwachen, setzt sich Helen auf und nippt an ihrem Wasser. Sie schraubt das Röhrchen mit den Ibuprofen-Tabletten auf und legt sich eine auf die Zunge, sacht wie eine Oblate bei der Heiligen Kommunion.
Sie schluckt, und genau in dem Moment, als die Tablette ihren Schlund hinabgleitet, durchzuckt ihren Ehemann – nur wenige Schritte entfernt im Badezimmer – ein plötzlicher Schmerz.
Er hat sich beim Rasieren geschnitten.
Er betrachtet das Blut, das auf seiner feuchten, öligen Haut schimmert.
Wunderschön und tiefrot. Er tupft es ab, begutachtet den Fleck, den es auf seinem Finger hinterlassen hat, und sein Herz schlägt schneller. Sein Finger nähert sich Zentimeter für Zentimeter seinem Mund, aber bevor er dort ankommt, hört er etwas. Schnelle Schritte, die sich dem Badezimmer nähern, dann den Versuch, die Tür zu öffnen.
»Dad, kannst du mich bitte reinlassen … bitte«, sagte seine Tochter Clara, während sie heftig gegen das massive Holz hämmert.
Er folgt ihrer Bitte, und Clara stürzt hinein und beugt sich über die Toilettenschüssel.
»Clara«, sagt er, als sie sich erbricht. »Clara, ist alles in Ordnung?«
Sie richtet sich auf. Ihr blasses Gesicht über derSchuluniform sieht zu ihm auf, die Augen hinter den Brillengläsern verzweifelt.
»O Gott«, sagt sie und beugt sich wieder über die Schüssel. Sie erbricht sich noch einmal. Peter riecht es und sieht es auch. Er zuckt zusammen, nicht wegen des Erbrochenen, sondern weil er weiß, was es zu bedeuten hat.
In wenigen Sekunden sind alle da. Helen kauert neben ihrer Tochter nieder, streicht ihr über den Rücken und erklärt ihr, es sei alles gut. Und in der Tür steht Claras Bruder Rowan, mit dem Sonnenblocker Faktor sechzig in der Hand, den er noch auftragen muss.
»Was ist mit ihr los?«, fragt er.
»Gar nichts«, sagt Clara, die kein Publikum will. »Ehrlich, jetzt ist alles in Ordnung. Ich fühl mich gut.«
Und die Aussage bleibt im Raum hängen, lauernd, und mit ihrer übel riechenden Falschheit die Luft verpestend.
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DIE ROLLE
Clara gibt sich größte Mühe, ihre Rolle den ganzen Morgen weiterzuspielen, sie macht sich ganz normal für die Schule fertig, trotz des elenden Gefühls im Magen.
Man muss wissen, dass Clara am vergangenen Samstag von einer Vegetarierin zur überzeugten Veganerin aufgerüstet hat, um Tiere dazu zu bringen, sie ein bisschen mehr zu mögen.
Weil die Enten ihr Brot nicht nahmen, die Katzen sich nicht von ihr streicheln ließen und die Pferde auf der Koppel an der Thirsk Road jedes Mal verrückt spielten, wenn sie an ihnen vorbeiging. Sie kann den Schulausflug nach Flamingo Land nicht vergessen, bei dem sämtliche Flamingos in Panik gerieten, noch bevor sie am See angekommen war. Oder ihre kurzlebigen Goldfische – Rhett und Scarlett –, die einzigen Haustiere, die ihr je erlaubt worden waren. Ein absoluter Horror, als sie am ersten Morgen an der Wasseroberfläche schwammen, auf dem Rücken, ihre
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