Die Radleys
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ORCHARD LANE NUMMER SIEBZEHN
Die Straße ist ruhig, vor allem nachts.
Zu ruhig, würde man denken, als dass sich ein Monster zwischen den hübschen, schattigen Gässchen niederlassen könnte.
Um drei Uhr morgens fällt es im Dörfchen Bishopthorpe in der Tat leicht, jene Lüge zu glauben, die seine Bewohner verbreiten: Hier leben gute und friedvolle Menschen ihr gutes und friedvolles Leben.
Zu dieser Stunde hört man nur Laute, die die Natur selbst hervorbringt. Den Ruf einer Eule, einen bellenden Hund in der Ferne oder, in einer frischen Nacht wie dieser, das obskure Wispern des Windes in den Platanen. Selbst wenn man sich an die Hauptstraße stellte, gleich vor das schicke Bekleidungsgeschäft oder das Pub oder den Hungry Gannet, den Feinkostladen, würde man nur selten Verkehrslärm hören und das schimpfliche Graffiti an der Wand des ehemaligen Postamtes kaum sehen (wobei das Wort ›FREAK‹ gerade noch lesbar ist, wenn man genau hinschaut).
Jenseits der Hauptstraße, in Gegenden wie der Orchard Lane, würde man auf einem nächtlichen Spaziergang an den Altbau-Villen der Anwälte und Doktoren und Projektmanager vorbeischlendern, würde alle Lichter gelöscht vorfinden und die Gardinen zugezogen, um die Nacht auszuschließen. Jedenfalls so lange, bis man bei Nummer siebzehn ankämeund ein Leuchten hinter den Gardinen eines Fensters im Obergeschoss bemerken würde.
Und wenn man stehen bliebe, um jene kühle und tröstliche Nachtluft zu inhalieren, würde man zunächst sehen, dass Nummer siebzehn ansonsten mit den Häusern seiner Umgebung im Einklang steht. Vielleicht ist es nicht ganz so groß wie das seines nächsten Nachbarn, Nummer neunzehn, mit der breiten Auffahrt und dem eleganten Regency-Stil, es kann sich aber durchaus behaupten.
Das Haus sieht genauso aus wie das Heim einer Familie auf dem Land und fühlt sich auch genauso an. Nicht zu groß und nicht zu klein, nichts, was das Auge stören könnte. Ein Traumhaus, wie jeder Makler versichern würde, und gewiss perfekt, um Kinder großzuziehen.
Aber kurz darauf würde man merken, dass etwas nicht stimmt. Nein, ›merken‹ ist vielleicht zu viel gesagt. Man würde vielleicht nicht aktiv realisieren, dass sogar die Natur um dieses Haus herum stiller erscheint, dass kein Vogel und auch sonst nichts zu hören ist. Jedoch könnte ein unbewusstes Gefühl Anlass geben, sich über den Lichtschimmer zu wundern und eine Kälte wahrzunehmen, die nichts mit der Nachtluft zu tun hat.
Wenn jenes Gefühl stärker würde, könnte Angst daraus werden, weshalb man die Szene am liebsten verlassen und wegrennen würde, es aber wahrscheinlich nicht täte. Man würde das nette Haus und den Minivan in Augenschein nehmen und sich denken, dass es sich hier um den Besitz vollkommen gewöhnlicher Menschen handelt, die für die Außenwelt keinerlei Bedrohung darstellten.
Wer sich diesem Gedanken hingäbe, würde sich irren. In Orchard Lane Nummer siebzehn wohnen die Radleys, und obwohl sie sich größte Mühe geben, sind sie alles andere als normal.
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DAS GÄSTEZIMMER
›Du musst schlafen‹, redet er sich ein, was aber nichts nützt.
Das Licht, das an jenem Freitag um drei Uhr in der Frühe brennt, gehört zu ihm, zu Rowan, dem älteren der beiden Radley-Kinder. Er ist hellwach, obwohl er das Sechsfache der empfohlenen Dosis von Wick Medinait geschluckt hat.
Er ist um diese Uhrzeit immer wach. In einer guten Nacht fällt er gegen vier in den Schlaf und wacht um sechs oder kurz danach wieder auf. Zwei Stunden qualvollen, rastlosen Schlafes mit gewalttätigen Albträumen, die er nicht versteht. Aber heute ist keine gute Nacht, weil sich sein Ausschlag aufdringlich bemerkbar macht, der Wind hinter dem Fenster pfeift und er weiß, dass er wahrscheinlich ohne jede Ruhephase zur Schule gehen wird.
Er legt sein Buch beiseite. Byrons Gesammelte Gedichte. Er hört, dass jemand den Flur entlanggeht, nicht zur Toilette, sondern zum Gästezimmer.
Die Tür zum Wäscheschrank wird geöffnet. Ein leises Rumoren und dann ein kurzer Moment Stille, bis er hört, dass sie das Zimmer wieder verlässt. Das ist nicht ganz ungewöhnlich. Schon oft hat er gehört, wie seine Mutter mitten in der Nacht aufstand und ins Gästezimmer ging, ohne jemals zu ergründen, was sie eigentlich dort tut.
Dann hört er, wie sie wieder zu Bett geht und seine Eltern hinter der Wand unverständliche Worte flüstern.
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TRÄUMEN
Helen legt sich wieder ins Bett, ihr ganzer Körper
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