Die Radsport-Mafia und ihre schmutzigen Geschäfte (German Edition)
Spitzenprofis waren dabei. Es war sehr
seltsam, nun auf der anderen Seite des Spiegels zu stehen.
Ich stand an der Straße und sah das Feld vorbeirollen. Ich spürte
die Zugluft, als die Fahrer vorüberrauschten, sah, wie stark sie waren, dünn
wie Bohnenstangen, die Körper summten dahin, fast als ob sie fliegen würden.
Und ich sah sie nach dem Rennen, völlig ausgelaugt. Ich
hatte meist genauso ausgesehen.
Die Menschen erkannten mich, und die meisten waren freundlich. Ich
muss wohl an die 30 Autogramme gegeben haben. Die Leute sagten, sie seien wegen
meiner Ehrlichkeit stolz auf mich gewesen. Ein Vater eröffnete mir, er habe
seinen Kindern das 60 Minutes -Interview viermal
gezeigt. (»Die armen Kinder«, scherzte ich.)
Repräsentanten aus der Fahrrad-Industrie zu begegnen führte hingegen
oft zu seltsamen Situationen. Sie zögerten, drucksten herum und ließen mich
möglichst schnell wieder allein. Einige verhielten sich schlicht abweisend,
sahen mir kaum in die Augen. Ich verstand den Grund. Diese Leute konnten es
sich nicht leisten, Lance gegen sich aufzubringen. Ihr Einkommen hing davon ab,
dass die Legende lebte. Aber dass ich sie verstand, machte mein Leben nicht
leichter. Ich war nach wie vor ein Ausgestoßener, ein Fremder in meinem eigenen
Sport.
Die Begegnung, die mir am meisten bedeutete, hatte ich nach dem
Rennen, als ich Levi Leipheimer entdeckte, der auf dem Weg zur Dopingkontrolle
an mir vorbeifuhr. Ich rief: »Hey, Levi, ich bin’s, Tyler!«
Levi erkannte meine Stimme, hielt an und machte kehrt. Wir
unterhielten uns zwei Minuten lang. Levi wusste Bescheid: Er war vorgeladen
worden; er wusste viel von dem, was auch ich wusste, und ich ging davon aus,
dass er die Wahrheit gesagt hatte. Oberflächlich betrachtet, redeten wir gar
nicht viel, doch schon der bloße Kontakt zu ihm war großartig. Levi hätte nicht
freundlicher sein können, fragte ein paarmal, wie es mir gehe, und wünschte mir
alles Gute. Es war ein gutes Gefühl zu wissen, dass – zumindest in Levis Augen – unsere Bruderschaft immer noch stark war.
Das Leben ging weiter, während wir auf die Verkündung der
Anklagepunkte warteten. Lindsay und ich, inzwischen verlobt, beschlossen, den
Herbst in Boston zu verbringen, weil sie kurz vor dem Abschluss ihres
Magisterstudiums stand. Tanker und ich zogen in ihre nette kleine Wohnung in
Cambridge ein, die nur eine Autostunde von meiner Familie in Marblehead
entfernt war. Es war wunderbar, wieder in der alten Heimat zu sein. Wir konnten
die Red Sox anfeuern, alte Freunde treffen und Zeit mit unseren beiden Familien
verbringen. Es gab nur eine Sache, die uns zusetzte: das immer stärker werdende
Gefühl, dass wir beobachtet wurden. Zunächst waren es nur Kleinigkeiten. Uns
fielen Leute auf, die uns im Lebensmittelladen oder auf der Straße im Auge behielten.
Einmal waren es zwei Typen, die am Straßenrand vor unserer Wohnung mehrere
Stunden lang in einem hellbraunen Ford-Astro-Transporter saßen und am folgenden
Tag in einem anderen Auto wiederkamen. Etliche Postsachen verschwanden aus
unserem Eingangsbereich, darunter auch Steuerformulare.
Beunruhigender war, dass unsere Computer und Telefone plötzlich
Mucken machten. Wir hatten unsere E -Mails bis dahin
auf Gmail gelesen und sahen uns plötzlich ausgesperrt, weil jemand anders sich
eingeloggt hatte. Am Telefon hörten wir seltsame Pieptöne. Wir schickten eine SMS und stellten fest, dass zwei Kopien verschickt worden
waren, nicht nur eine. Wir änderten unsere Passwörter und redeten uns ein, das
habe nichts zu bedeuten. Aber die Zeit verging, und diese Dinge hörten nicht
auf. Wenn hier Hacker am Werk waren, hatten sie jedenfalls Sinn für Humor: Wir
sahen jetzt überall Pop-Ups für die Lance-Armstrong-Stiftung, auch auf
Websites, die nie und nimmer in irgendeiner Form mit Lance oder seiner Stiftung
zu tun haben konnten. Ich sprach mit meinem Vater über den Verdacht, unsere
Telefone könnten angezapft sein – woraufhin er zum Schluss dieses Telefonats
seinen Teil beisteuerte, indem er sagte: »… und übrigens: Scheiß auf dich,
Lance.«
Nach einigen Wochen mit Erfahrungen dieser Art rief ich Novitzky an,
um ihm davon zu berichten. Er zeigte keinerlei Überraschung, ja, er klang
sogar, als hätte er so etwas erwartet. Novitzky sagte, sämtlichen Zeugen im
Fall Barry Bonds sei es ähnlich ergangen. In solchen Fällen gehörte es offenbar
zur üblichen Vorgehensweise der Verteidigung, Privatdetektive anzuheuern,
Weitere Kostenlose Bücher