Die Radsport-Mafia und ihre schmutzigen Geschäfte (German Edition)
an. Wie das gelegentlich vorkommt, erschien plötzlich eine
Anzeige, mit einem Foto von Lance. Normalerweise zuckte ich bei so etwas
zusammen und klickte das Fenster weg. Aber diesmal starrte ich dieses Gesicht
aus irgendeinem Grund an und stellte dabei fest, dass Lance ein breites, nettes
Lächeln hatte. Es erinnerte mich daran, wie er einst gewesen war, wie geschickt
er Menschen zum Lachen bringen konnte. Ja, Lance konnte schon ein echter
Saukerl sein, ein Riesenarschloch. Aber irgendwo dort drin hatte auch er ein
Herz.
Ich sah mir das Bild genau an, versuchte mich an dieses alte Gefühl
zu erinnern, und zu meiner Überraschung tat Lance mir plötzlich leid. Nicht
rundum leid; viel von dem, was auf ihn zukam, hatte er verdient – wie man sich
bettet, so liegt man. Aber im weitesten Sinn tat er mir leid, als Mensch, weil
er in der Falle saß, eingesperrt in all seine Geheimnisse und Lügen. Ich
dachte: Lance würde lieber sterben, als etwas zuzugeben.
Würde man ihn aber zwingen, die Wahrheit zu sagen, wäre das vielleicht das
Beste, was ihm passieren könnte.
16
AUSGETRICKST?
Lindsay und ich heirateten kurz vor Thanksgiving 2011 in
Boston und fingen an Pläne zu schmieden, vielleicht wieder nach Boulder zu
ziehen. Wir waren nicht sicher, ob wir für immer dort bleiben wollten; für mich
gab es dort viele Erinnerungen, und die Ausdauersport-Szene ist dort so präsent – nur in Boulder sind ehemalige Radprofis allesamt Berühmtheiten –, dass es
einen manchmal fast erdrückt. Aber wir wollten es wenigstens für eine Weile
ausprobieren; und Lindsay war wie immer Feuer und Flamme. Ende Dezember hängten
wir einen Wohnwagen, vollgestopft mit all unseren Sachen, an unseren
Geländewagen und verließen Boston Richtung Westen. Wir nahmen die Südroute
durch Charlottesville, Knoxville und Chattanooga und hörten Johnny Cash in
voller Lautstärke – »Monteagle Mountain«, »Orange Blossom Special«, »Folsom
Prison Blues« und »I Walk the Line«. Draußen rollte die Landschaft an uns
vorbei, und wir öffneten die Seitenfenster und spürten die warme Luft auf
unserer Haut. Wir hatten das Gefühl, als steuerten wir auf ein ganz neues Leben
zu.
Anfang Januar trafen Lindsay und ich in Boulder ein. Wir zogen in
einen Bungalow in der Mapleton Avenue, und ich machte mich sofort daran, mein
Trainingscenter einzurichten, Lindsay meinen Freunden vorzustellen und wieder
ans dortige Leben anzuknüpfen. Vielleicht sollte ich besser sagen, ich machte
all diese Dinge größtenteils. Denn zum Teil war ich in Gedanken noch immer weit
weg – ich wartete auf eine Nachricht hinsichtlich der Anklage. Außerdem war da
auf einmal wieder das ungute Gefühl, verfolgt zu werden: es gab erneut Probleme
mit Computer und Telefon, vor unserem Haus saßen seltsame Leute in geparkten
Wagen. Wir ignorierten das alles, so gut es ging, aber nach dem
Cache-Cache-Vorfall kamen wir uns schutzlos vor, vor allem weil Lance ja nur
ein paar Stunden entfernt in Aspen wohnte. Auf jeden Fall versteckten wir zur
Sicherheit einen Baseballschläger neben der Haustür.
Freitag, der 3. Februar, war ein heller, freundlicher Tag, und
Lindsay und ich freuten uns schon auf ein ruhiges Wochenende. Wir wollten mit
Tanker wandern gehen, uns mit Freunden treffen und im Super Bowl unseren New
England Patriots beim Spiel gegen die New York Giants die Daumen drücken. Am
Nachmittag erhielt ich auf dem Rückweg von unserer Wanderung eine SMS mit einem Link zu einem Artikel:
Staatsanwaltschaft stellt Ermittlungen gegen Armstrong ein.
Ich merkte, wie mir schlecht wurde.
Mit zitternden Fingern tippte ich auf mein Handy ein. Das konnte
doch nur ein schlechter Scherz sein. Dann sah ich die anderen Schlagzeilen, die
sich mit der ersten deckten. Es stimmte also. Verdammte
Scheiße, wollt ihr mich verarschen?, twitterte ich, löschte aber den
Eintrag gleich wieder – ich blieb besser cool, bis ich mehr wusste.
Völlig aufgelöst fuhr ich nach Hause. Ich setzte mich an den
Computer und las weitere Artikel. In allen stand dasselbe: Fall
abgeschlossen, ohne Begründung. Ich rief Novitzky an; keine Antwort. Ich
las Lance’ kurzes Statement, in dem er seine Dankbarkeit zum Ausdruck brachte.
Ich überflog die Artikel, die alle denselben Inhalt hatten: Ein US -Anwalt namens André Birotte Jr. hatte um 16.45 Uhr
eine Pressemitteilung herausgegeben – ideal getimt, um sicherzustellen, dass
sie möglichst wenig Aufmerksamkeit erregen würde, zu einem Zeitpunkt, da
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