Die Radsport-Mafia und ihre schmutzigen Geschäfte (German Edition)
die
potenzielle Zeugen beschatteten: Je mehr Informationen sie über mich hatten,
desto leichter konnten sie im Prozess meine Glaubwürdigkeit erschüttern.
Novitzky versprach, dass er uns unterstützen werde: Wir sollten sofort Kontakt
aufnehmen, wenn wir uns bedroht fühlten. Er gab mir eine spezielle
Notrufnummer, die rund um die Uhr erreichbar war. Seine Hilfe war
professionell; sie wurde auf eine lockere und freundliche Art gewährt, die wir
schätzten. Einmal schickte er zum Schluss einer seiner Mails sogar ein Smiley.
Lindsay und ich hatten unsere Freude daran: Dieser große, hartgesottene
Regierungs-ermittler verwendete Emoticons.
Der Herbst erinnerte mich daran, warum Boston meine
Lieblingsstadt ist. Es sind nicht nur die Farben, es ist das Gefühl prallen
Lebens, ein Gefühl, dass da zwar etwas vergeht, dafür aber sogleich eine neue
Überraschung vor der Tür steht. Lindsay bereitete sich auf ihr Examen vor, und
Tanker und ich gingen auf Erkundungstour. Wir trafen einen Teenager namens
James, der in der Nachbarschaft lebte und auf eine Sonderschule ging. Er und
Tanker wurden auf den ersten Blick Freunde, und James kam ab sofort regelmäßig
vorbei, um mit Tanker Gassi zu gehen.
Schon bald unternahmen James und ich gemeinsame Radtouren, und
Tanker lief neben uns her. Wir fuhren den Heartbreak Hill hinauf, die berühmte
Steigung beim Boston Marathon, und James schlug sich großartig. Er war stark
und entschlossen. Als wir oben ankamen, war James so erhitzt, als wäre er
gerade nach Alpe d’Huez hinaufgefahren. Bei mir war’s nicht anders.
Nach wie vor ging zu ich Dr. Welch, dem Therapeuten, und genoss
unsere Gespräche. Im Lauf der Zeit öffnete ich mich ihm immer mehr. Die Wochen
vergingen, und irgendwann stellte sich ein ganz seltsames Gefühl ein. Ich
fühlte mich merkwürdig unbeschwert, beinahe ausgelassen. Plötzlich plauderte
ich mit Leuten, die mir gerade über den Weg liefen, oder ich stand mit James
und Tanker regungslos auf dem Bürgersteig und freute mich an den
Sonnenstrahlen, die mir die Haut wärmten. Jetzt erkannte ich, was für ein
ungewohntes Gefühl das war: Ich war glücklich. Aus ganzer Seele richtig
glücklich.
Mein aktuelles Lernthema lautete: Geheimnisse
sind Gift. Sie rauben dir die Lebenskraft, nehmen dir die Fähigkeit, in
der Gegenwart zu leben, und sie errichten Mauern zwischen dir und den Menschen,
die du liebst. Jetzt, nachdem ich die Wahrheit gesagt hatte, fand ich wieder
ins Leben zurück. Ich konnte mit Menschen sprechen, ohne mir Sorgen zu machen
oder mich gleich wieder zurückzuziehen oder über die Motive des anderen
nachzudenken, und das war ein phantastisches Gefühl. Ich fühlte mich ins Jahr 1995
zurückversetzt, bevor der ganze Mist begonnen hatte; damals, als ich dieses
Häuschen in Nederland, Colorado, hatte und es dort nur mich, meinen Hund, mein
Rad und die große weite Welt gab.
Lindsays Wohnung war voller Bücher – Philosophie, Psychologie,
Soziologie. Ich fing an, darin zu lesen, und spürte zum ersten Mal seit langer
Zeit, dass sich ein Teil meines Denkens von etwas Neuem angesprochen fühlte.
Wir sahen weniger fern, tranken viel Tee, machten Yoga. Eines Abends, als ich
mich vorbeugte, um etwas aufzuheben, spürte ich etwas Seltsames in der
Bauchgegend – ein kleines Speckröllchen, zum ersten Mal seit Jahren. Ich nahm
es zwischen Daumen und Zeigefinger, und es fühlte sich gut an. Normal.
Ich überlegte manchmal, was wohl geschehen würde, wenn Lance vor
Gericht stand. Ich dachte immer, es würde zu einem Prozess kommen. Lance war
sicher nicht der Typ, der sich im Gegenzug für eine mildere Strafe schuldig
bekannte. Eher würde er den Einsatz erhöhen als sich arrangieren. Und so wie
ich Novitzky kannte, würde auch der nicht lockerlassen. Die Sache würde also
vor Gericht landen. Es würde einen Riesenauftrieb geben, den größten
Sport-Strafprozess aller Zeiten. Die Medien würden ihren großen Tag haben, im
Vergleich dazu würde der Bonds- und Clemens-Prozess wie ein
Verkehrsgerichtsverfahren wirken. Die Menschen würden die Wahrheit über unsere
Sportart erfahren und sich dann ihre eigenen Gedanken machen. Sie könnten Lance
verzeihen oder ihn für seine Lügen hassen und dafür, dass er seine Macht
missbrauchte. Doch was sie auch immer taten, sie sollten zumindest die Chance
haben, die Wahrheit zu erfahren und dann eine eigene Entscheidung zu treffen.
Eines Nachmittags surfte ich fürs Geschäft im Internet; ich sah mir
Trainings-Websites
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