Die Radsport-Mafia und ihre schmutzigen Geschäfte (German Edition)
eine derartig drückende Überlegenheit einer Mannschaft zuvor nicht
gegeben; es war etwa so, als würde eine Fußballelf ein Meisterschaftsspiel mit 99 : 0 gewinnen. Außerdem platzierten sich gleich sieben Italiener unter den
ersten acht dieses Rennens, was zeigt, wie EPO sich, gleich der
Renaissance, von Italien aus im Rest der Welt ausbreitete.
Nach dem Rennen wurde Michele Ferrari, der Teamarzt von
Gewiss, von einem Reporter direkt gefragt, ob seine Fahrer auf EPO
seien. »Ich verschreibe das Zeug nicht«, antwortete er. »Aber in der Schweiz
können Sie EPO rezeptfrei legal kaufen, und wenn ein Fahrer das tut,
stört mich das nicht.« Als der Journalist auf die zahlreichen Todesfälle nach EPO-Missbrauch
hinwies, erwiderte Ferrari: »EPO an sich ist nicht gefährlich, solange
man es nicht missbraucht. Auch Orangensaft ist lebensgefährlich, wenn man zehn
Liter auf einmal trinkt.«
5 Man
fragt sich automatisch: Wenn jeder EPO nahm, wieso waren
dann nicht alle gleich gut? Die Antwort, so die Wissenschaft, liegt darin, dass
eine Droge unterschiedliche Effekte auf jeden Menschen hat. Bei EPO
wirkt sich das besonders aus, weil die Fahrer sich dank der 50-Prozent-Regel
der UCI
unterschiedlich stark verbessern konnten. Zum Beispiel beträgt Hamiltons
natürlicher Hämatokritwert etwa 42. Wenn er genug EPO nimmt, um seinen
Wert auf 50 zu heben, also um 8 Prozent, ist das eine Steigerung um 19 Prozent
gegenüber dem vorherigen Wert. Mit anderen Worten: Hamilton konnte seinen
Bestand an sauerstofftransportierenden roten Blutkörperchen um 19 Prozent
erhöhen – eine Menge zusätzlicher Kraft – und trotzdem unter dem Limit bleiben.
Ein anderer Fahrer, dessen natürlicher Hämatokritwert bei 48
liegt, durfte nur so viel EPO nehmen, um ihn um 2 Prozent zu steigern,
also um 4 Prozent im Vergleich zum vorherigen Wert; seine Kraft nahm also
gegenüber der Hamiltons nur um ein Viertel zu. Das ist vielleicht einer der
Gründe für Hamiltons starke Leistungssteigerung, als er mit der Injektion von EPO
begann. Studien zeigen außerdem, dass einige Menschen besser auf EPO
ansprechen als andere; außerdem wirkt bei manchen das intensivere Training, das
durch EPO
möglich wird, besser als bei anderen. Schließlich kommt noch dazu, dass EPO
die Faktoren für die Leistungsbegrenzung vom Zentrum des Körpers (Herzleistung)
an die Peripherie (Sauerstoffabsorptionsrate der Muskelenzyme) verschiebt.
Fazit: EPO und andere Dopingmittel schalten die
physiologischen Möglichkeiten nicht etwa gleich, sondern verlagern sie in
völlig neue Regionen und setzen dabei die gewohnten Spielregeln außer Kraft.
Dr. Michael Ashenden beschreibt es so: »In einem Dopingrennen ist der Gewinner
nicht der, der am härtesten trainiert hat, sondern derjenige, der am härtesten
trainiert hat und dessen Körper am besten auf die
Mittel anspricht.«
ZIMMERGENOSSEN
1 Im
Jahr darauf, 1999, als Armstrong sich nach dem Tour-de-France-Sieg mit der Auszahlung der traditionellen Prämien
verspätete, ging Andreu zu ihm und erinnerte ihn daran, jedem seine 25 000
Dollar zu geben.
2 In
David Walshs Buch From Lance to Landis (New York:
Ballantine Books 2007) gibt die Postal-Betreuerin Emma O’Reilly zu Protokoll,
Postal-Mitarbeiter hätten den Wert der damals über die Toilette des Wohnmobils
entsorgten Medikamente auf 25 000 Dollar geschätzt.
3 Die
Leistung des Cofidis-Teams von 1998 war, statistisch gesehen, ein Ausreißer.
Die vier besten Cofidis-Fahrer (Julich, Christophe Rinero, Roland Meier und
Kevin Livingston) fuhren insgesamt fünfzehnmal die Tour de France und belegten
dabei durchschnittlich nur Platz 45.
»Es machte Lance wahnsinnig, dass Bobby [Julich] bei der Tour
[1998] Dritter wurde«, erinnert sich Betsy Andreu, Frankies Ehefrau. »Lance hielt
Bobby nie für einen Topfahrer, also zogen wir ihn damit auf. Rückblickend würde
ich sogar sagen, dass es für Lance ein Motivationsschub war – wenn Bobby auf
den dritten Platz kommen konnte, hatte er, Lance, gute Chancen auf den
Gesamtsieg.«
GEBORENE VERLIERER
1 Livingston
hat sich nie öffentlich zu Dopingvorwürfen geäußert. Auf Interviewanfragen
reagierte er nicht.
2 Offenbar
galt das auch umgekehrt: Wenn Armstrong die Werte nicht brachte, wurde er
nervös – was im Januar 1999 auffällig wurde, als das Postal-Team in Solvang,
Kalifornien, ein Trainingslager hatte. Das ganze Team absolvierte ein
Zehn-Kilometer-Zeitfahren, anschließend gab es
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