Die Radsport-Mafia und ihre schmutzigen Geschäfte (German Edition)
unbesiegbar.
Ich mobilisierte alle Kräfte. Normalerweise halte ich mir etwas auf
mein Pokerface zugute, aber wie die Bilder jenes Tages zeigen, spielte der
äußere Schein keine Rolle mehr: zusammengekniffene, verschwollene Augen,
heraushängende Zunge, der Kopf zurückgelegt. Mir wurde hundsmiserabel. Aber ich
hatte gute Beine. Sie kurbelten weiter.
Ich zog davon. Erst zwei Minuten Vorsprung, dann drei. Vier. Und
schließlich unglaubliche fünf Minuten. Während sich der Abstand vergrößerte,
fühlte ich mich immer stärker. Mit neun Minuten Rückstand auf Lance war ich in
diese Etappe gegangen, und jetzt fuhr ich bei der Tour de France aufs
Treppchen. Hinter mir wurde das Feld unruhig und eröffnete die Jagd: Die Teams
der drei bis dahin Erstplatzierten wurden aktiv. Ich konnte Lance’ Knurren
förmlich hören – nicht normal! Sie gingen in die
Vollen und arbeiteten hart, um mich noch abzufangen. Die Teams, die am meisten
zu verlieren hatten, wechselten sich bei der Führungsarbeit ab. Aber sie
erwischten mich nicht. Heute nicht. Alles andere bei dieser Tour war
schiefgegangen – der Sturz, mein Schlüsselbein, der eingeklemmte Nerv. Heute
würde es anders laufen. Die lange Einfahrt nach Bayonne war eine Achterbahn mit
steilen, kurzen Anstiegen und steilen, kurzen Abfahrten. Ich sah das und
lächelte in mich hinein. Genauso hatte ich mit Cecco in den Hügeln der Toskana
trainiert, im 40-20er-Rhythmus. Ich nutzte die neue Maximalleistung meines
Motors. Im Headset hörte ich Bjarnes ruhige Stimme, die mich anfeuerte.
Du fährst die Tour de France kaputt.
Tyler, Tyler, Tyler, du bist so stark.
Sie werden dich nicht einholen.
Man kann über BB und Edgar sagen, was
man will; man kann mich auch, so oft man will, einen Betrüger und Doper nennen.
Was bleibt, ist die Tatsache, dass ich meine Trümpfe bei einem Rennen
ausspielte, bei dem alle dieselben Chancen hatten – und dass ich sie gut
ausspielte. Ich nutzte die Gelegenheit und trieb mich an, so gut ich konnte – und am Ende dieses Tages kam ich als Erster ins Ziel. Als die Ziellinie
näherrückte, fuhr ich langsamer, sodass Bjarne neben mich fahren und wir uns im
Augenblick des Sieges die Hand reichen konnten. Die Presse bezeichnete diese
Flucht als die längste und mutigste der Tourgeschichte. Ein paar Fahrer murrten
über meine »außerirdische Leistung«, aber das war mir egal. Ein paar Tage
später gewann Lance die Tour mit knappem Vorsprung vor Ullrich und Winokurow.
Dank meiner Solofahrt wurde ich Vierter im Gesamtklassement und erzielte damit
mein bestes Endergebnis überhaupt bei der Tour. Ich kam zwar nicht aufs
Treppchen, konnte es aber von da, wo ich jetzt stand, gut sehen.
Leider gingen Bjarne und ich wenige Tage später getrennte Wege. So
sehr wir uns persönlich mochten und trotz des Erfolgs, den wir miteinander
gehabt hatten, waren wir in einem entscheidenden Punkt verschiedener Meinung.
Nach meinem Gefühl brauchte ich bei der Tour de France die Unterstützung des
gesamten Teams, während Bjarne das Konzept zweier gleichberechtigter Kapitäne
bevorzugte. Schon auf der 13. Etappe war mir klar geworden, dass unsere
Zusammenarbeit zu Ende gehen würde, als Bjarne mit dem Teamfahrzeug an mir
vorbeirauschte, um Carlos Sastres Versuch, den Etappensieg einzufahren, zu unterstützen.
Vom CSC -Team wegzugehen fiel mir nicht leicht. Als
ich Bjarne meine Entscheidung mitteilte, weinten wir beide. Er sagte mir, er
habe noch nie jemanden kennengelernt, der so hart arbeitete wie ich. Ich
schätzte das, und ich schätzte auch ihn. Aber ich war kein Frischling mehr,
sondern schon 33. Da bleibt fürs Abwarten keine Zeit.
Bei Phonak, einem aufstrebenden Team aus der Schweiz, unterschrieb
ich einen Zweijahresvertrag für 2004 und 2005. Der Eigentümer dieser
Mannschaft, ein freundlicher Schweizer Unternehmer namens Andy Rihs, ein Mann
wie ein Bär, war die Art von Chef, die man sich erträumt: mit positiver
Einstellung, großen Ambitionen und uneingeschränkt unterstützender
Grundhaltung. Mein Vertrag sah 900 000 Dollar Jahresgehalt plus Bonuszahlungen
vor. Solche Zahlen gaben mir, zusammen mit Andys Unterstützung, die Gewissheit,
dass ich der Kapitän des Tour-Teams sein und 2004 für mich das Jahr werden
würde, an dem ich alle Chips, den gesamten Einsatz, in die Mitte des
Spieltisches schob.
Anfang August flog ich in die Staaten zurück und erlebte
eine Überraschung: Ich war dort so etwas wie eine Berühmtheit – zumindest
für ein paar
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