Die Radsport-Mafia und ihre schmutzigen Geschäfte (German Edition)
Am letzten Anstieg des Tages, auf der Strecke nach Luz
Ardiden, fuhren wir alle in derselben Gruppe. Mayo attackierte als Erster;
Lance reagierte, und wir folgten. Lance holte Mayo ein und startete dann
seinerseits einen Angriff.
Wenn Lance in Führung liegt, macht er den Verfolgern manchmal gern
das Leben schwer, indem er am Streckenrand so nah wie möglich an den Zuschauern
vorbeifährt. So kann der nächste Fahrer seinen Windschatten nicht so gut nutzen
wie bei einer Fahrt in Straßenmitte. Jemanden »auf die Windkante nehmen«, nennt
man das, und es ist einerseits nützlich, zugleich aber auch ziemlich riskant.
Wenn man so dicht an den Zuschauern entlangfährt, kann leicht etwas passieren.
In diesem Fall war es ein etwa zehn Jahre alter Junge. Er spielte
mit einem gelben Proviantbeutel aus Plastik – einem Souvenir –, und im
Vorbeifahren verfing sich Armstrongs rechte Lenkstange im Griff dieses Beutels.
Der Junge hielt ihn instinktiv fest und brachte Armstrong so zu Fall. Auch Mayo
ging zu Boden. Ullrich konnte gerade noch ausweichen.
Wir fuhren weiter. In solchen Fällen ist es üblich, alle Attacken
auf Eis zu legen, bis das Gelbe Trikot wieder zur Spitzengruppe aufgeschlossen
hat – das gehört zu den ungeschriebenen Gesetzen der Rennfahrer-Ritterlichkeit.
Also fuhren wir in gleichmäßigem Tempo weiter und warteten auf Lance’ Rückkehr
in unsere Gruppe.
Auch Ullrich fuhr weiter. Ich erblickte ihn ein paar Hundert Meter
vor uns, und für mich sah es nicht danach aus, als würde er warten. Er
attackierte nicht gerade, fuhr aber ganz gewiss auch nicht langsamer. Ich
beschloss, ein Streichholz abzubrennen, um ihn einzuholen und aufzufordern,
einen Gang herunterzuschalten. Es dauerte etwa eine Minute, bis ich ihn erreicht
hatte und ihn wie auch die anderen mit Gesten zum Warten animierte. Ullrich
verlangsamte sein Tempo, und Lance schloss zu uns auf. Dann löste er sich,
gewann die Etappe in eindrucksvoller Manier und machte dabei 40 Sekunden auf
Ullrich und 1 : 10 Minuten auf mich gut – was ihm wenige Tage vor dem Finale der
Tour einen kleinen Vorsprung verschaffte.
Haven bekam an jenem Abend eine SMS von
Lance. Sie lautete: »Tyler hat heute große Klasse bewiesen. Dein Mann ist ein
Teufelskerl. Vielen Dank.« Ich freute mich über diese Nachricht, aber diese
Freude war nicht so intensiv wie das Gefühl, das Richtige getan zu haben. Das
hatte nichts mit Lance zu tun, sondern mit Fairness. Selbst in unserer
Welt – ganz besonders in unserer Welt – fühlt es sich manchmal gut an,
wenn man sich an die Regeln hält.
An jenem Abend traf ich mich in einem nahe gelegenen Hotel mit Ufe
und erhielt den dritten BB . Alles ging glatt, aber
ich empfand dabei ein tiefes Bedauern. Ich wünschte mir, wir hätten die
Transfusion früher vorgenommen, dann hätte ich auf der 13. und 14. Etappe keine
Zeit verloren. Jetzt, wo sich mein Schlüsselbein stabiler anfühlte, wusste ich,
dass ich diesen BB gut einsetzen musste. Der
nächste Tag war meine letzte Chance, bei dieser Tour noch etwas zu erreichen:
Die 16. Etappe von Pau nach Bayonne enthielt auch die letzten großen
Berganstiege.
Der Tag begann nicht gut: Gleich in einer frühen Phase steckte ich
im Hauptfeld fest, als vorn die Post abging, und wurde abgehängt. Ich fühlte
mich kraftlos und schwerfällig, wie das nach einer BB -Zufuhr
manchmal der Fall war. Ich musste einige Teamgefährten bitten, mich im
Windschatten wieder zur Spitze zu führen. Kurz darauf war ich wieder vorn und
fühlte mich besser.
Am ersten größeren Anstieg des Tages attackierte ich und schloss dabei
zu einer kleinen Ausreißergruppe auf. Wir legten eine gewisse Distanz zwischen
uns und das Peloton, und als wir uns dem Col Bagargui näherten, der großen
Bergprüfung dieses Tages, beschloss ich, abermals anzugreifen. Ich nahm den
Kopf herunter, stieß in die Todeszone vor, und als ich wieder aufschaute, fuhr
ich allein durch den Nebel, 96 Kilometer vor dem Ziel.
Eine Solo-Ausreißerfahrt ist eine merkwürdige Erfahrung. Ich stelle
mir das so ähnlich vor wie eine Ruderpartie über den Atlantik. Man fährt los
mit einem gewissen, gänzlich unbekümmerten Gefühl der Freiheit. Man verpulvert
seine Energien, schließlich hat man nichts zu verlieren. Doch dann, während die
Zeit fortschreitet, spielt einem der eigene Kopf Streiche. Die Stimmung
schwankt von einem Extrem ins andere. Mal fühlt man sich allein und ist ohne
Hoffnung – und wenig später
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