Die Radsport-Mafia und ihre schmutzigen Geschäfte (German Edition)
20 Watt mehr. Mit BB konnte ich mich
wieder heranarbeiten. Auf dem Video kann man sehen, wie ich wieder ins Bild
komme und zur Spitzengruppe aufschließe. Als Lance sich umsieht, bin ich direkt
hinter ihm.
Lance greift weiter an, er hat einen schnellen Tritt und gibt sein
Bestes. Aber er kann uns nicht abhängen: Mit dabei sind noch Mayo und sein
Teamgefährte Haimar Zubeldia, Beloki und Wino. Aber keine Postal-Fahrer, Lance
ist jetzt allein. Er hat seine Helfer verschlissen.
Nach ein paar Minuten, schon in den Kehren, geht Lance aus dem
Sattel. Wiegetritt – so wie immer, wenn er das Letzte aus sich herausholt. Ich
kann nicht aufstehen – mein Schlüsselbein schmerzt zu sehr –, also beiße ich
die Zähne zusammen und gebe im Sitzen, was ich kann. Wie in den alten
Trainingstagen: nur er und ich in den Bergen oberhalb von Nizza. Er gibt alles,
und ich antworte.
Wie fühlt sich das an?
Ich bin noch da.
Und das?
Bin immer noch da.
Ein kleines Zahlenbeispiel: Der Führende bei einer Bergfahrt
verbraucht etwa 15 bis 20 Watt mehr als der Fahrer in seinem Windschatten.
Deshalb bleibt man ja so lange wie möglich am Hinterrad und spart sich die
eigene Energie für die entscheidenden Augenblicke auf: für die Attacken und
Reaktionen darauf. Wir nennen das »Streichhölzer abbrennen«, was bedeutet, dass
jeder Fahrer eine bestimmte Zahl von großen Anstrengungen auf sich nehmen kann.
Jetzt, auf dem Weg nach Alpe d’Huez, brannte Lance ein Streichholz nach dem
anderen ab.
Wir spüren das und greifen ihn an. Zuerst Beloki, dann Mayo, dann
versuche ich es und lasse Lance hinter mir. Und es funktioniert. Sekundenlang
habe ich ein paar Meter Vorsprung. Die Fernsehkommentatoren Phil Liggett und
Paul Sherwen geraten bei ihrer Übertragung aus dem Häuschen.
»So einen Kampf am Berg haben wir noch nie gesehen«, ruft Liggett.
»Sie glauben, dass [Lance] verwundbar ist! Sie glauben wirklich, dass Armstrong
zu schlagen ist!«
Lance ist die Anstrengung ins Gesicht geschrieben: tiefe Falten auf
der Stirn, die Unterlippe vorgeschoben, der Kopf nach vorn geneigt. Er quält
sich wieder an mich heran. Nun reißt Mayo aus, er tritt an, und sein
orangefarbenes Trikot mit dem offenen Reißverschluss flattert wie das Cape
eines Superhelden. Winokurow folgt ihm, Lance lässt die beiden ziehen. Ich versuche
aufs Neue wegzufahren, aber Lance hängt sich dran. Jetzt haben wir die Rollen
getauscht. Er folgt mir und zeigt: Ich bin immer noch da,
Mann .
Auf den letzten Kehren sind uns beiden die Streichhölzer
ausgegangen. Wir bleiben auf den letzten paar Kilometern eng beeinander. Mayo
schnappt sich den Etappensieg, Wino wird Zweiter. Lance und ich kommen mit fünf
anderen ins Ziel, Ullrich ist nur 1 : 24 Minuten hinter uns. In den Medien ist
Lance’ Schwäche danach das beherrschende Thema. Doch wir Fahrer wissen, dass
sie ahnungslos sind. Die Wahrheit ist: Zum ersten Mal in meiner gesamten
Tour-de-France-Laufbahn sind die
Voraussetzungen gleich.
In den folgenden Tagen klemmte ich mir – weil ich mich so stark auf
das gebrochene Schlüsselbein konzentriert hatte – einen Nerv im unteren
Rückenbereich ein. Das verursachte Schmerzen, die noch schlimmer waren als das
gebrochene Schlüsselbein. Ich bekam Dauerkrämpfe im Rücken. Am Abend der
zehnten Etappe wurden die Schmerzen unerträglich, Gehen wurde zum Problem, die
Atemfunktion war eingeschränkt. Wir versuchten es mit allen gängigen Methoden:
Massage, Eis, Wärme, Tylenol – nichts wirkte. Es fühlte sich an wie eine
eiserne Faust, die meine Wirbelsäule umfasste und zudrückte.
Ole Kare Foli, der schlaksige, etwas alternativ angehauchte CSC -Physiotherapeut, beschloss, es mit einer extremen
chiropraktischen Maßnahme zu versuchen – im Grunde genommen wollte er mich auf
dieselbe Art strecken, wie man ein verbogenes Stück Kupferrohr wieder
geradebiegt. Ich sagte ihm, er solle sich beeilen, und das tat er dann auch.
Ich schrie, Ole und Haven weinten, und Tugboat bellte, aber als es vorbei war,
fühlte ich mich besser. Auf den nächsten Etappen verlor ich zwar etwas Zeit,
blieb aber auf Tuchfühlung zu den Plätzen auf dem Treppchen.
Zu Beginn der 15. Etappe waren die Abstände geringer als je zuvor:
Fünf Fahrer lagen eng beieinander, mit einem Gesamtabstand von nur 4 : 37
Minuten. Postal setzte abermals alles auf eine Karte – offenbar die einzige,
die sie noch ausspielen konnten. Sie probierten es mit brachialer Gewalt – und
scheiterten wieder.
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