Die Radsport-Mafia und ihre schmutzigen Geschäfte (German Edition)
Wochen. Wir wussten, dass meine Leistung bei der Tour Beachtung
gefunden hatte, aber uns war nicht klar gewesen, wie weit das ging. Ehe ich
mich versah, plauderte ich bei der Today -Show mit
Matt Lauer, warf den ersten Ball bei einem Spiel der Boston Red Sox und läutete
zum Handelsbeginn beim American Stock Exchange die Glocke. Die Händler auf dem
Parkett freuten sich besonders über diese Begegnung mit mir. (Offensichtlich
verfolgen viele von ihnen die Tour.) Sie nannten mich Tyler Fucking Hamilton – Hey, sieh mal, das ist Tyler Fucking Hamilton – bis wir
beschlossen, dass das mein neuer zweiter Vorname sein sollte.
Meine Heimatstadt Marblehead veranstaltete eine Parade. Im Seaside
Park versammelten sich 3000 Menschen. Auf Flaggen, T-Shirts und gelben
Transparenten konnte man lesen: TYLER IST UNSER HELD .
Am Ortsrand wurde ein Schild aufgestellt: Heimatstadt des
Weltklasse-Radfahrers Tyler Hamilton. Eine ganze Fahrradflotte fuhr uns
bei der Parade voraus. Haven und ich saßen auf dem Rücksitz eines blitzblanken
Cabrios und winkten den Menschen zu. Ich stand auf einem Podium, hielt eine
Rede und nahm die Schlüssel zur Stadt in Empfang. Ich hielt Ausschau und sah
all diese Gesichter – die glücklichen, bewundernden, lächelnden Gesichter.
Ich hielt das nicht aus.
Verstehen Sie mich nicht falsch – ich schätzte das alles mehr, als
ich überhaupt sagen kann. Ich fühlte mich geehrt und war dankbar für all die
guten Wünsche. Es war so toll, von all den Freunden und Familien umgeben zu
sein, mit denen ich aufgewachsen war. Aber in meinem Innersten schämte ich
mich. All das Lob machte es noch schlimmer.
Das Schlimmste war, dass die Ehrungen kein Ende nahmen. Wildfremde
Menschen legten Geschenke auf unserer Türschwelle ab; schrieben mir lange,
bewegende Briefe, in denen sie mir mitteilten, wie sehr ich sie inspiriert
hätte; machten mir per E -Mail Heiratsanträge;
nannten ihre Kinder nach mir. Ich versuchte, die Aufmerksamkeit von mir
abzulenken, um den Druck zu lindern. Fragte mich ein Fan nach meinem
Schlüsselbein oder meinem Etappensieg, wechselte ich das Thema und fragte die
Leute im Gegenzug nach ihrer Heimatstadt, ihrem Lieblings-Baseballteam oder
ihrem Haustier. Alles war mir recht, um von mir selbst abzulenken. Oder ich
reagierte, wenn sie mich lobten, mit einem Satz wie: »Hey, es ist doch nur ein
Radrennen.« Ich meinte das wirklich so. Wir lösen schließlich nicht das Problem
des Hungers auf der Welt, wir sind nur ein Haufen magerer, verrückter Typen,
die versuchen, als Erster über die Ziellinie zu fahren. Aber meine Versuche
bewirkten meist das genaue Gegenteil, weil mir die Leute das als Bescheidenheit
und Freundlichkeit auslegten. Ich fühlte mich in der Falle: Was immer ich auch
tat, es sorgte für mehr Ruhm und mehr Aufmerksamkeit.
Ich erinnere mich, wie ich dachte: Damit lebt
Lance Tag für Tag, nur bei ihm ist es hundertmal schlimmer. Wir waren im
selben Spiel gefangen, und es gab keinen Ausweg. Was sollte ich tun?
Zurücktreten? Die Wahrheit sagen? Auf paniagua fahren? Die Welt wollte mehr,
brauchte mehr. Deshalb würde ich den Leuten wohl mehr geben müssen, musste
weiter gewinnen, weiter der Held sein, den sie in mir sahen.
In jenem Herbst kauften Haven und ich ein neues Haus außerhalb von
Boulder, an der Sunshine Canyon Road, mit Blick auf die Rocky Mountains, einem
Flügel im Wohnzimmer und allen innenarchitektonischen Feinheiten, bis hin zum
aus Holz geschnitzten Elchkopf an der Wand. Wir fühlten uns, als hätten wir
jetzt alles erreicht. Aber in meinem Innersten setzte mir die Wahrheit zu.
Im Herbst 2003 verfiel ich in die tiefste Depression meines Lebens.
Ich sank bis auf den Grund des schwarzen Ozeans, konnte tagelang nicht
aufstehen. Ich verspürte nicht das geringste Interesse am Radfahren, am Essen,
an allem, was mit Freude verbunden war. Nach allen erdenklichen Maßstäben stand
ich auf dem Höhepunkt meiner Laufbahn. Ich hatte praktisch alles erreicht, was
ich mir einmal vorgenommen hatte, und noch mehr dazu. Ich hatte Erfolg, war
reich, es sah so aus, als stünden mir alle Türen offen. Und mir war hundeelend
zumute.
Die Menschen verstehen nicht, wie schmerzhaft eine Depression ist.
Es ist, als wäre der eigene Verstand überzeugt davon, dass er stirbt, und
produziert eine Säure, die einen innerlich auffrisst, bis nur noch eine
unheimliche Leere übrig bleibt. Das Denken wird von düsteren Gedanken erfüllt.
Man kommt zu der Überzeugung, dass einen die
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