Die Räder der Welt - Lake, J: Räder der Welt - Mainspring
eiskalten, abweisenden Landschaft gab es auch Schönheit. In der Ferne konnte Hethor glitzernde Türme erkennen, die aus funkelndem Eis zu sein schienen – Schwesterstädte der Kristallmetropolen, die er während seines Aufstiegs an der Äquatorialmauer gesehen hatte. Er stellte sich die Frage, warum das Exotische nur in den Randbereichen des Bekannten fortbestand. Oder lag es nur daran, dass das Vertraute nicht exotisch aussehen konnte?
Die Türme standen in Reih und Glied auf einem Hochland an der Küste, fingen das fahle Licht an ihren Spitzen ein und warfen es diamanthell zurück. An ihren Sockeln waren kleinere Kuppeln zu erkennen. Welcher Handel oder welche Industrie sie versorgen konnten, war aus der Ferne unmöglich zu erkennen, aber mit solcher Schönheit zu leben und jeden Sonnenaufgang genießen zu können, würde Hethor jeden Tag das Herz aufgehen lassen.
»Bote.«
Er wandte sich von dem wunderschönen Anblick ab. Arellya hatte seine Hand ergriffen und stand neben ihm. Salwoo war ihr gefolgt. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich habe euch nicht zugehört.«
Arellya nickte und erkannte damit nicht nur seine Entschuldigung an, sondern tat sie gleichzeitig ab. »Das vergessene Volk erfriert. Kannst du die wahre Sonne zurückbringen? Dieser blasse Vetter, der über den Himmel huscht, ist wertlos.«
Hethor unterdrückte ein Lachen. »Nein. Nur wenn wir wieder zurück in den Norden fliegen, was ich nicht tun kann. In den Lagerräumen des Schiffes befinden sich Decken. Ernennt eine Gruppe, die sie verteilen soll.«
Salwoo wirkte unglücklich. »Du kleidest dich am ganzen Körper mit Pflanzenhaut, so wie dein Volk es macht. Das vergessene Volk tut so etwas nicht.«
»Dann wird das vergessene Volk an der Kälte sterben«, sagte Hethor. Er drückte Arellyas Hand. »Wollt ihr eure Seelen auf ewig kalt sein lassen?«
Die beiden Angehörigen des vergessenen Volkes nickten, ließen ihn stehen und besprachen sich miteinander.
Hethor wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Küste und den fernen Türmen zu. Der Kurs der Herz Gottes ließ sie weiter landeinwärts segeln. Direkt unter ihnen befanden sich lange, mit Kies bedeckte Täler, in denen kleine Hügel aus Eis oder Schnee zu sehen waren. Der fürchterliche Gestank der Küste war noch nicht gänzlich verschwunden.
Mit einem Mal gab es ein Ächzen, das sich mit dem surrenden Geräusch der Zahnräder verband, die Hethor stets am Rand seiner Wahrnehmung hörte. Ein Erdbeben!, dachte er und schaute vorsichtig nach unten.
Es war kaum zu erkennen, was geschah. Die Täler unter ihnen schienen sich nicht groß zu verändern, aber aus dieser Höhe war ihre kiesbedeckte Landschaft nicht viel mehr als eine grobe Struktur. Hethor blickte zu den Türmen hinüber.
Sie schwankten hin und her.
Die funkelnden Diamanten des gespiegelten Sonnenlichts tanzten wie ein Schwarm Glühwürmchen am Himmel. Während Hethor die Türme noch betrachtete, zerbrach einer von ihnen und schickte eine funkelnde Gischt aus Splittern in die Luft. Sie legte sich wie ein strahlender, aber tödlicher Nebel um seine Zwillingsbrüder, von denen zwei weitere zusammenbrachen. Dies alles geschah in einer gespenstischen Stille, bis das klirrende, scheppernde Getöse ihres Sturzes auch an Deck der Herz Gottes deutlich zu vernehmen war, so, wie Donner auf Blitz folgt. Der Nebel, der sich aus den Trümmern erhob, verwehrte Hethor den Blick und verwandelte die eisige Stadt in eine regenbogenfarbene Wolke, die über der gefrorenen Erde schillerte.
Er hörte unterhalb des Surrens der Zahnräder der Welt ein Stottern, als würde eine riesige Hemmung in ihrer Bewegung behindert. Der Tag verzögerte sich, und die Erde verpasste erneut den korrekten Zeitpunkt. Die Verzögerung um Mitternacht hatte sich von den drei Sekunden, die Hethor damals auf der Bassett notiert hatte, auf fünfzehn Sekunden verlängert. Jedes Mal, wenn sich eines dieser schrecklichen Erdbeben ereignete, schien die Erdrotation sich noch mehr zu verlangsamen.
Die schlüsselförmige Narbe auf Hethors Handfläche glühte in einem zornigen Rot und schmerzte wie aus Anteilnahme an der grausamen Zerstörung unter ihnen. Als Hethor zusehen musste, wie der Tod glitzernd über die eisige Stadt hereinbrach, fühlte er sich bewogen, ein Grabgedicht zu sprechen und einen Kommentar zum Niedergang eines Wunders dieser Welt abzugeben:
»Das Herz Gottes ist das Herz der Welt.«
»Solange der Mensch lebt, lebt Gott.«
»Solange Gott lebt, lebt die
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