Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)
einmal, zweimal. Dann öffnete sie den Mund, schloss ihn anschließend aber wieder entschieden und schüttelte kurz den Kopf.
Paolina
Die Taschenuhr lag warm in ihrer Hand. Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann sie das Gerät das letzte Mal in voller Absicht verwendet hatte und nicht als panische Reaktion auf eine Bedrohung. Sie musste feststellen, dass es bei diesem das erste Mal war.
Ihr Kopf schmerzte immer noch von ihrem Weinkonsum, als sie sich auf einer der Bänke des Amphitheaters aufrichtete. Ming war an diesem Morgen schon unterwegs. Drei Steine lagen auf dem Holz neben ihr – einer so groß wie eine kleine Kröte, einer so groß wie ihre Faust und ein flaches Stück mit rauer Oberfläche, das als Teller hätte dienen können.
Sie streichelte zärtlich über die Taschenuhr. Sie erinnerte sich noch genau daran, wie sie die erste Uhr in einem behelfsmäßigen Gefängnis in ihrem Heimatdorf zusammengebaut hatte, in das man sie gesteckt hatte, weil sie sich dem Diktat der Männer nicht unterwerfen wollte. Jene hatte ein Gehäuse aus Enkidu-Metall besessen und eine gewisse Eleganz ausgestrahlt. Diese hier sah hingegen aus, als ob sie unter Gewaltandrohung zusammengelötet worden wäre. In beiden Uhren aber befanden sich englische Federwerke, zusammengeklaubte Einzelteile und Komponenten, die sie selbst angefertigt hatte.
Die Taschenuhr in ihrer Hand verfügte über die vier Zeiger und die multifunktionale Aufzugskrone, die auch die erste besessen hatte. Einer bestimmte die Zeit, die die Grundlage aller Existenz war, ein Zeiger diente dazu, ihren eigenen Herzschlag zu messen, ein weiterer bestimmte die Erdumdrehungen, und mit dem vierten konnte sie beliebig all das messen, wonach ihr der Sinn stand.
Dieser letzte Zeiger machte ihr nun Sorgen, auch wenn alle vier auf Arten und Weisen miteinander verbunden waren, die sie vermutlich niemals würde nachvollziehen können.
Paolina zog die Aufzugskrone auf ihre letzte Position heraus. Das gelang ihr nur mit Mühe – der Schimmer war auf ihrer Reise seit dem Absturz der Heaven’s Deer recht grob behandelt worden –, und die Aufzugskrone ging nicht in den üblichen Freilauf über. Sie wurde kurz von Panik ergriffen. In dieser Position war das Gerät so gefährlich wie eine entsicherte Granate oder Pistole.
Sie korrigierte die Position des vierten Zeigers und sah zu, wie er frei über das leere Ziffernblatt lief. Paolina schloss ihre Augen und stellte sich den kleinsten Stein vor, ließ den Zeiger sich auf die glänzenden Einschlüsse aus Katzensilber konzentrieren, die Vogeleiform, die angenehme Größe, mit der es sich in die Hand schmiegte.
Ein leichter, kaum merklicher Wandel versetzte Paolina in einen Zustand der Einstimmung, der wie ein grenzenloser Ozean langsam anschwoll. Sie konnte den Stein fühlen, die winzigen Schwingungen in ihm erspüren, mittels derer sich die Struktur von Gottes Uhrwerkuniversum in einem so kleinen Maßstab manifestierte, dass das menschliche Auge sie niemals wahrnehmen würde.
Quod est superius est sicut quod est inferius.
Das Oberste kommt vom Untersten und das Unterste vom Obersten.
Alles beruhte auf allem anderen; Wolken, die sich innerhalb von Wolken bewegten; ein Ineinandergreifen von Verzahnungen und Lagern, die die gesamte Schöpfung durchzogen. Sie betrachtete den Teil der Welt, auf den die Taschenuhr jetzt eingestimmt war. Sie erkannte, wie der Schimmer um seine Position wusste, veränderte die Bewegung des Steins, sodass die Position nicht mehr sicher war, und setzte ihn an einem anderen Ort wieder ab.
Etwas stach sie knisternd in die rechte Hand. Paolina wachte mit einem Schlag auf. Sie schüttelte den Arm in der Hoffnung, das Insekt, das auf ihm gelandet sein musste, wieder loszuwerden, musste aber überrascht feststellen, dass ein Dutzend Splitter in ihre Haut und ihr Handgelenk eingedrungen waren. Im Ärmel ihres zerfetzten Kleids steckten noch viel mehr.
In die Holzbank, auf der der kleinste Stein gelegen hatte, war ein rauchender, schüsselförmiger Krater eingebrannt. Der Stein lag gelassen in der Mitte des festgetrampelten Lehms, der dem Amphitheater als Bühne diente.
Paolina war sowohl beeindruckt als auch enttäuscht. Beeindruckt, weil sie nicht wusste, ob sie eine solche Präzision jemals wieder erreichen würde. Enttäuscht, weil selbst die allerkleinste Aufgabe, wie das Bewegen eines Steins über eine kurze Distanz, zu einer kleinen Katastrophe geführt hatte. Paolina seufzte und
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