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Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie

Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie

Titel: Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Zigarre raucht. Ich weiß nicht, was er tun wird, wenn die Weihnachtszeit vorüber ist und die Anlage abgebaut werden muss.«
    »Aber ich hab gedacht, die Züge sind für Cyril, seinen Sohn«, sagte ich erstaunt.
    »Cyril!«, sagte Mr Applegate. Er lachte herzlich. »Der Alte lässt Cyril nicht einmal in den Raum mit seinen Zügen! Um keinen Preis! Cyril würde sofort versuchen, einen Zugzusammenstoß herbeizuführen.Cyril ist ein echter Rabauke. Er würde die Signale zerbrechen und mit seinem Fuß in die Fenster der Bahnhöfe treten.«
    Am Nachmittag des Heiligen Abends schneite es. Ich nahm die Post aus dem Briefkasten, bevor ich den Bus zur Bank bestieg. Zwischen den Rechnungen war eine an mich adressierte Weihnachtskarte. In der Ecke des Briefumschlags hatte Dad diesmal eine richtige Absenderadresse vermerkt: O. Ogilvie, Indian Grove Ranch, Reseda, Kalifornien. Ich öffnete das Kuvert. Eine gute Nachricht! Dad hatte endlich Arbeit gefunden, wenn auch nur als Erntehelfer auf einer Orangenplantage. Kommentarlos hatte er einen Dollarschein beigelegt. Und eine schlechte Nachricht. Er hatte einen Artikel aus dem Landwirtschaftsblatt ausgeschnitten: »Deere stellt landesweit Betrieb ein.«
    Ich las den Zeitungsbericht und mir sank immer mehr der Mut. Trotz allem drückte ich den Dollarschein an meine Lippen und küsste ihn, weil Dads Hand diesen Dollar verdient und berührt hatte, zweitausend Meilen weit weg. Ich hatte nicht die Absicht, ihn so bald auszugeben.
    Ich fröstelte. Der tief hängende graue Himmel verdunkelte sich, und ich rannte hinaus, um den Bus zu erwischen. Bei der Bank angekommen, donnerte ich mit aller Kraft an die Tür, um das Heulen des Windes zu übertönen.
    Mr Applegate öffnete. »Dieser verdammte Schnee!«, sagte er. »Der wird sich zu einem Schneesturm entwickeln! Womöglich kommen wir gar nicht mehr nach Hause, Oscar!«
    Ein kreischendes Geräusch war zu hören. Hinter Mr Applegate hing eine Pennsylvania-Lok mit durchdrehenden Rädern auf einer Eisenbahnbrücke. Die ganze schwere Lokomotive baumelte an einer einzigen Kupplung von einer Brücke über dem Mississippi.
    »Sie wird abstürzen!«, schrie ich. Ich warf meinen Mantel über einen riesigen ledernen Bankersessel und rannte hin, um zu retten, was zu retten war, bevor die gesamten fünf Pfund Stahl in den gläsernen Fluss krachten.
    »Du bist ja schnell!«, sagte Mr Applegate. »Muss den alten Pettishanks ein kleines Vermögen gekostet haben, den Fluss aus blauem Glas anfertigen zu lassen. Stell dir vor, wir wären schuld, wenn er kaputtgeht!Dann könnte ich fünf Jahre lang Frondienst leisten!«
    Mr Applegate und ich fixierten das gebrochene Gleis, genau wie Dad und ich es gemacht hätten. Dann beluden wir die Schornsteine aller Lokomotiven mit Rauchkügelchen.
    »Fertig?«, fragte er und grinste.
    »Alles bereit zur Abfahrt. Lassen wir sie rollen!«, antwortete ich. Mr Applegate zog den Hebel des Hauptreglers und alle einundzwanzig Züge rasten mit affenartiger Geschwindigkeit rund um die Gleise. Die Beleuchtung des Foyers war ausgeschaltet bis auf die Notbeleuchtung, zwei schwache Lichter hinter dem verriegelten Fenster des Kassenschalters. Nur die Lampen und Signale in den Stationen und an den Bahnübergängen der kleinen Städte leuchteten in der Dunkelheit der riesigen Halle. Draußen peitschte der Schnee gegen die hohen Fenster des Bankgebäudes.
    Das Foyer der Nationalbank von Cairo war nicht ganz so gemütlich wie der Keller in unserem alten Haus, aber trotzdem. Wenn ich meinen Blauen Komet dann und wann für ein paar Minuten besuchte, hatte ich jedes Mal das Gefühl, ich bin wieder zuHause und lasse unsere Züge in unserer Welt unter der Welt rollen.
    Ich legte meinen Kopf seitlich auf die Anlage, auf den Rasen am Rand bei einer Gleisbiegung. Der Transkontinental auf seinem Weg nach Kalifornien ratterte vorbei. Im Clubwagen las der Zinnmann mit der Brille seine Zinnzeitung und der Zinnjunge starrte von drinnen zu mir heraus. Ich wünschte, ein winziger Oscar könnte geradewegs auf die Anlage springen und in eine andere Welt fahren.
    »Bist du müde, Oscar?«, fragte Mr Applegate.
    »Nein«, antwortete ich. »Ich fantasiere nur.«
    »Du fantasierst?«, fragte Mr Applegate.
    Es war mir peinlich, Mr Applegate zu sagen, was passierte, wenn ich meinen Kopf auf die Anlage legte; dass ich dann ernstlich glaubte, ich könnte so klein sein wie der Zinnjunge und die Bahnhofsrampe hinaufstürmen. In meinem Traum wurde das Pappmaschee zu

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