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Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie

Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie

Titel: Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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den Zehen und sprich ein paar Gegrü-ßet-seist-du-Maria . Das tat ich und dankte Gott aus tiefstem Herzen, wo immer Er in dieser seltsamen Welt sein mochte. Irgendwie war ich in den Zug meines Vaters geraten; mehr als das wusste ich nicht. Aber es stand außer Frage, wo ich war. Vor uns waren die Lichter einer riesigen Stadt. Sie funkeltenmajestätisch entlang dem Ufer des Michigansees. Kein Zweifel, ich war in Richtung Nordwesten unterwegs, nach Chicago und noch weiter.
    Der Golden State Limited wartete, genau wie der Schaffner gesagt hatte, auf Gleis neun. Erst als ich an Bord geklettert war, merkte ich, dass mir die Panik noch immer in den Knochen saß und mein Kopf wie betäubt war. Mitsamt meinen Kleidern und Schuhen ließ ich mich auf das obere Bett des nächsten leeren Schlafwagenabteils fallen. Meine Schläfen pochten. Ich war überzeugt, dass mein Kopf zur Größe einer Melone angeschwollen und mit Baumwollflocken gefüllt war. Ich konnte nicht behaupten, dass ich irgendwelche Schmerzen hatte. Es waren keine Kratzer oder blauen Flecken zu sehen. Aber mein Körper wusste, dass er etwas sehr Unnatürliches durchgemacht hatte.
    Irgendwo auf dem Bahnsteig ließ der Schaffner seine Pfeife schrillen. Sechs Wagen vor mir hörte ich das Stampfen der Lokomotive, als sie sich zur Abfahrt bereit machte. Die Kupplungen kreischten, Eisen gegen Eisen, als sich der Zug in Bewegung setzte. Mein Kopf war schwer wie ein Stein, undsosehr ich mich auch bemühte, es gelang mir nicht, ihn vom Kissen zu heben oder meine Augen zu öffnen. Ein Speisewagenkellner marschierte den Gang entlang und klopfte an die Tür jedes Abteils. »Abendessen in zwei Durchgängen, meine Damen und Herren! Erster Durchgang in drrreißig Minuten! Drrreißig Minuten! Cocktails in der Bar.« Ich war hungrig. Ich hätte eine doppelte Portion von Tante Carmens Fischeintopf essen können, aber es spielte keine Rolle. Nach dreißig Sekunden überwältigte mich der Schlaf.
    Ich lag da wie eine Lumpenpuppe, bis der Zug irgendwann in der Nacht mit einem Ruck zum Stehen kam. »Des Moines! Des Moines!«, hörte ich den Schaffner rufen. »Golden State Limited nach Kalifornien, alles einsteigen!«
    Ich fiel wieder in einen Dämmerschlaf. Plötzlich wehte kalte Luft herein, als die Tür meines Abteils aufgeschoben wurde und jemand einen Koffer schwungvoll auf das untere Bett beförderte. Wer immer es war, er schien nicht zu wissen, dass ich im Dunkeln oben im anderen Bett lag. Ich warf einen kurzen Blick nach unten. Der Mann hatte einen blau und weiß gestreiften Pyjama angezogen. Er wuschsein Gesicht, putzte seine Zähne, rasierte sich und sang dazu die ganze Zeit laut und falsch: »Mein Hut, der hat drei Ecken, drei Ecken hat mein Hut, und hätt er nicht drei Ecken, dann wär er nicht mein Hut!«
    Ich wachte erst wieder auf, als das Morgenlicht durch das Fenster über meinem Bett hereinfiel. Ich öffnete meine Augen ganz. Oscar, wo um Himmels willen bist du? , fragte ich mich. Und wie bist du bloß hierhergekommen? Ich hatte keine Ahnung.
    Wenn man sein Gedächtnis kneifen konnte, dann kniff ich es. Wenn man seinem Hirn einen Schubs geben konnte, damit es sich erinnerte, dann schubste ich es, aber es gelangte nur sehr wenig an die Oberfläche. In einem Bilderbuch, das ich gehabt hatte, als ich klein war, gab es einen Troll. Sein Trick war, dass man ihn nur aus dem Augenwinkel sehen konnte; wenn man ihn direkt anschaute, verschwand er. Der Versuch, mir das, was in der Bank passiert war, in Erinnerung zu rufen, war genauso schwierig, wie diesen Troll zu sehen.
    Auf dem Rücken liegend untersuchte ich meinen Körper nach Wunden. Es gab keine. Ich beugte meine Knie und bewegte meine Knöchel. Alle Gliederschienen zu funktionieren. Vorsichtig schwang ich meine Beine über die Bettkante.
    »Fröhliche Weihnachten!«, sagte die Stimme des nächtlichen Sängers von unten. Ich zog meine Füße zurück und rollte mich auf meinem Bett zu einer Kugel ein.
    »Wer sind Sie?«, fragte ich zaghaft.
    »Mein Name ist Dutch. Und wer bist du?«, antwortete die Stimme.
    Mein Unbehagen verflog. Dutch war kein besonders guter Sänger, aber seine Sprechstimme war die fröhlichste und klangvollste, die ich je gehört hatte.
    Ich schaute über die Bettkante. Seine kräftigen Kieferknochen brachten ein Lächeln zustande, so warm wie ein Junimorgen. Ich sah auf Dutchs Kopf hinunter, die Fülle braunen Haars, das auf der einen Seite gescheitelt und auf der anderen zu einem kleinen Schopf

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