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Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie

Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie

Titel: Die rätselhafte Reise des Oscar Ogilvie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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Irgendwo hinter mir krachte der Schuss wie ein Feuerwerkskörper.
    Ich flog hoch wie ein Zirkusakrobat, der aus einer Kanone geschossen wird, und landete mit einem Plumps auf meinen Ellbogen und Knien. Ich bot ein ungeschütztes Ziel und ich wusste es. Der Mann mit der Pistole würde mich sehen und abknallen. Ich lag vollkommen still auf irgendetwas, das schrecklich pikste, und zuckte mit keiner Wimper. Irgendwo in der Nähe erscholl das Echo einer Kette von Flüchen. Dann vernahm ich klar und deutlich die Worte. »Verdammter Mist, wo zum Henker ist dieser Sch…bengel? Er muss sich in Luft aufgelöst haben!«
    Ich presste meine Augen fest zu und hielt den Atem an, als würde das die Männer verschwinden lassen. Um mich herum und über mir dröhnte eine Stimme. »Wo ist der Bengel? Wo ist er hin?« Wieder ein Schwall von Schimpfwörtern und Flüchen. »Er war gerade noch da! Wo zum Teufel steckt er?«
    »Da ist kein Junge. Wir sehen Gespenster! Los, verschwinden wir, bevor die Bullen kommen.«
    Wieder krachte ein Schuss.
    Vor mir ratterte friedlich ein Zug vorbei, als wärendie Schüsse und Schreie Teil einer anderen Welt. Ich musste atmen. Ein betäubender Gestank füllte meine Nasenlöcher. Der Gestank versetzte mich zurück in unseren Keller in der Lucifer Street. Ich wusste genau, was es war … Lack. Dad und ich hatten Dutzende Büsche und Bäume aus Seeschaum gemacht. Dieses zarte Material stank nach dem Lack, in den es getaucht worden war. Ich war in einem Gebüsch aus zahnstocherspitzem Seeschaum gelandet. Mr Pettishanks hatte auch solche Büsche.
    Ich hob meinen Kopf vorsichtig aus dem Gebüsch, gerade genug, um einen Blick zu riskieren. Der Schnee unter meinen Knien war nicht kalt, es waren nur künstliche Scheeflocken, die schön glitzerten. Alles, was ich aus meiner Lage sehen konnte, war die Unterseite einer Zinnbank in nächster Nähe. Auf den Latten stand eingraviert: Lionel Company. Es gab keinen Zweifel darüber, wo ich war.

Ich wartete eine scheinbare Ewigkeit, ohne mich zu rühren, bis ich den piksenden Seeschaum nicht länger ertragen konnte. Ich rollte mich heraus, rappelte mich auf die Füße, mit dem Gedanken, ein Telefon zu suchen. Die Polizei musste gerufen werden und ein Rettungswagen für Mr Applegate. Aber wo war Mr Applegate? Ich zerbrach mir den Kopf und versuchte mich zu erinnern, was mit ihm passiert war. Dann schwankte ich und ließ mich schwer auf die Bank sinken. Ich war so erschöpft, als wäre ich zehn Meilen gelaufen. Als ich imstande war aufzustehen, machte ich vorsichtig ein paar Schritte. Das Foyer der Bank war verschwunden. An dessen Stelle waren da die Dünen von Indiana und dahinter der Michigansee. Ein scharfer Wind blies vom Wasserher. Er drang durch meinen Pullover und wirbelte Sand in mein Haar.
    Ich griff nach einer Handvoll Schnee auf einem Fichtenzweig. Der Fichtenzweig war klebrig von Harz. Der Schnee war kalt. Meine Fingerspitzen röteten sich. Die Flocken schmolzen in meiner Hand zu eisigem Wasser. Der Schnee war ganz und gar nicht künstlich. Die Bank, auf der ich gesessen hatte, war nicht aus Zinn, sondern aus Stein und Eisen. Wieder horchte ich auf Pistolenschüsse, Bankräuber und aufgeregte Stimmen. Ich hörte nichts dergleichen. Vom See und in meine Lungen kam der Wind, salzig und feucht, ein Wind, der nie und nimmer im Innern des Marmorfoyers der Bank von Cairo wehen konnte.
    Ein Bahnhofsgebäude ragte zwei Stockwerke hoch über meinen Kopf auf. Der saubere grüne Anstrich um den Haupteingang kam mir bekannt vor. Ebenso das weiß-und-smaragdgrüne Muster der Fliesen auf der Aussichtsterrasse. Trotzdem war ich sicher, noch nie im Leben hier gewesen zu sein, weil ich in meinen elf Lebensjahren Cairo noch nie verlassen hatte.
    Aber so viel war sicher: Ich stand vor dem Bahnhofvon Dune Park an der Süduferlinie. Wie sollte ich je wieder nach Hause kommen? Wo war meine Welt? Trotz des kalten Winds begann ich zu schwitzen, sodass der Stoff meines Hemds bald klatschnass an meinem Körper klebte. Die Bahnhofsuhr zeigte 17.04 Uhr.
    Plötzlich ertönte ein schriller Pfiff und das unverkennbare Kreischen eiserner Kupplungen beim Halten eines Zuges war zu hören. Ich stürzte auf den Bahnsteig. Der Zug, der zischend zum Stehen kam, war der Blaue Komet.
    »Der Regionalzug nach Chicago, planmäßige Ankunft 17.04 Uhr!«, sagte eine Stimme aus einem Lautsprecher.
    Ich rannte nach vorn. Ich kannte jeden Waggon und jedes Namensschild. Aber das hier war kein Spielzeug. Es

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