Die rätselhaften Worte
sie aufstehen. Doch dann zeigte sich der liebe alte Gott seinem Diener Pascoe gnädig, der ihn, wenn nicht mit Hand und Herz, so doch mit dem Fuß tatkräftig unterstützt hatte. Irgendwo hinter ihnen wurde es unruhig, Leute standen auf, um jemanden durchzulassen. Alle drehten sich erwartungsvoll um, als wäre gerade der Hochzeitsmarsch angestimmt worden, um das Erscheinen der Braut anzukündigen.
Aber Pascoe wußte, wer es war, bevor er ihn sah.
Langsam und lautlos bewegte sich die magere Gestalt Franny Rootes durch den Mittelgang und bestieg die Kanzel. Er trug wie üblich Schwarz, nur ein winziges weißes Kreuz stach hervor, das trotz seiner geringen Größe auf seiner Brust zu brennen schien.
Einen Augenblick lang stand er da und blickte, wie, um seine Gedanken zu sammeln, mit ausdruckslosem, blassem Gesicht auf die Trauernden herab.
Als er schließlich zu sprechen begann, war seine Stimme leise, drang aber wie das Flüstern eines Schauspielers bis in den hintersten Winkel der stummen Kirche.
»Sam war mein Lehrer und Freund. Als ich ihn kennenlernte, hatte ich gerade eine schlimme Zeit hinter mir und wußte nicht, ob mir nicht noch eine schlimmere bevorstand. Hinter mir lag eine Finsternis, die ich kannte, vor mir eine Finsternis, die mir noch unbekannt war. Und dann, die Menschen nennen es Zufall, ich nenne es den Plan Gottes, begegnete mir Sam.
Als Lehrer war er ein Licht in der Finsternis meiner Unwissenheit. Als Freund war er ein Licht in der Finsternis meiner Verzweiflung. Er zeigte mir, daß ich nichts zu befürchten hatte, wenn ich nach intellektuellem Wissen strebte, und nur gewinnen konnte, wenn ich mich auf die Suche nach meinem Selbst begab.
Zum letzten Mal sah ich ihn kurz vor seinem schrecklichen Tod. Unser Gespräch drehte sich vor allem um wissenschaftliche Fragen, obwohl wie immer auch andere Dinge zur Sprache kamen, denn Sam zog sich nicht in einen elitären Elfenbeinturm zurück. Er war im wirklichen Leben zu Hause.«
Roote hielt inne und richtete seinen flackernden Blick auf die Reihe der Akademiker rund um Linda Lupin in der vordersten Bank. Dann setzte er seine Rede fort.
»Ich habe mich zu erinnern versucht, was er bei unserer letzten Begegnung gesagt hat, denn ich glaube, daß der Tod, selbst wenn er – ja, vielleicht gerade, wenn er gewaltsam und unerwartet eintritt, niemals kommt, ohne sich zuvor anzukündigen.
Auch der Tod ist zur Sprache gekommen. Es ist schwer, dieses Thema zu vermeiden, wenn man, wie wir es getan haben, über Sams Lieblingsdichter Thomas Lovell Beddoes diskutiert. Und ich weiß noch, daß wir vom Mysterium des Todes gesprochen haben und darüber, wie unser gewöhnliches, wenn auch nicht einziges Medium der Kommunikation, die Sprache, gerade durch ihre Komplexität oft mehr verbirgt als preisgibt.
Hatte er eine Vorahnung? Ich erinnere mich an sein Lächeln, mir erschien es schmerzlich, als er folgendes Fragment von Beddoes zitierte:
Ich fürchte, irgendein irres Geheimnis
Schlummert in deinen Worten (und mit jedem Gedanken
taucht ein Schädel auf) wie ein Skelett
In einem zugewachs’nen Loch unter Steinen und Wurzeln,
Verhuschten Reptilien, und mit zungenlosem Mund
Erzählt es von Mord …
(Pascoe hatte den Eindruck, daß Rootes Augen, als er das Wort
Mord
aussprach, die seinen suchten und ein leises Lächeln über seine blassen Lippen huschte. Aber vielleicht täuschte er sich.)
Vielleicht hat Sam versucht, mir etwas zu sagen, etwas, was er kaum selbst verstand. Vielleicht werde ich eines Tages dieses Geheimnis interpretieren können. Vielleicht muß ich aber auch warten, bis Sam selbst es für mich interpretiert.
Denn auch wenn Sam keiner offiziellen Religionsgemeinschaft angehörte, weiß ich aus unseren Diskussionen, daß ihn ein tiefer Glaube an ein Leben nach dem Tode beseelte, ein Leben, das sich von dieser grotesken Bergamasque unterscheidet, durch die wir uns hier auf Erden schleppen, und ihm unendlich überlegen ist. In dieser Hinsicht befand sich seine Seele ganz im Einklang mit Beddoes, und das Buch, das er über ihn schrieb, wäre ein Meisterstück der Philosophie wie auch der Philologie geworden.
Noch ein paar Zeilen Lyrik, und ich bin fertig. Verzeihen Sie mir, wenn sie Ihnen makaber erscheinen, aber glauben Sie mir, Sam hätte das nicht so empfunden. Er hat mir sogar einmal gesagt, wenn er seine eigene Beerdigung gestalten könnte, würde er sich wünschen, diese Zeilen zu hören.
Also lassen Sie mich, seinem Wunsch
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