Die rätselhaften Worte
entsprechend und mir zum Trost, dieses Gedicht vortragen:
Wir sind es, die unter dem Rasen liegen
Im Mondschein, im tieferen Schatten
Der Eibe. Und die vorüberziehen,
Hören uns nicht. Die Nimmersatten,
So fürchten wir, neiden uns Grabesfreuden,
Mit denen wir Glühwürmchennächte vergeuden.
Zieht doch mit uns zum Fels in der See,
Wir lächeln, beschreiten den Meerespfad,
Auf uralten Wogen, durchtränkt von Schnee,
Besuchen Verscholl’ne, Ertrunk’ne im glücklichen Grab.«
Er stand so reglos da wie der geschnitzte Adler, dessen ausgebreitete Schwingen das Pult der Kanzel stützten, und sah mit einer Intensität auf die Versammelten herab, die der des Vogels in nichts nachstand. Die Stille in der Kirche war mehr als nur die Abwesenheit von Lärm. Es war, als wären sie aus dem Hauptstrom der Zeit in einen Nebenarm abgetrieben, der das Vergessen der Lethe verhieß, wenn man nur stark genug war, sich hinabzubeugen und zu trinken. Dann brach Roote selbst den Bann, indem er hinabstieg und mit gebeugten Schultern und gesenktem Kopf durch den Mittelgang zurückging, nicht länger eine imponierende Erscheinung aus dem Jenseits, sondern eine Waise, ein verlorenes Kind.
»Was soll danach noch kommen!« flüsterte Ellie.
Sie hat recht, dachte Pascoe erleichtert. Es hätte der Taktlosigkeit eines Politikers bedurft, sich nun zu erheben und einen Kummer zur Schau zu stellen, der nun nur noch prosaisch wirken konnte.
Er sah, wie Linda Lupin sich den Kopf verrenkte und Roote nachsah. Dann redete sie mit Nachdruck auf den Vizekanzler ein.
Sie will wissen, wer der komische Kauz ist, der sich angemaßt hat, den ruhigen Tenor der Trauerfeier zu stören, dachte Pascoe und fragte sich nicht ohne Häme, welche gerechte Strafe Roote für seine Dreistigkeit von ihrer politischen Hoheit blühen mochte.
Nach der Beerdigung, als sich die Leute noch auf dem Friedhof drängten, bevor sie den Spießrutenlauf durch das Spalier der Journalisten und Kameraleute antraten, die draußen vor dem Tor lauerten, sah er, daß Linda tatsächlich bereits zur Tat geschritten war. Sie hatte sich Roote geschnappt und ließ ihren ganzen Zorn auf sein arg strapaziertes Trommelfell prasseln.
»Schau dir das an«, flüsterte er Ellie zu. »Ich wette, Franny wünscht sich weit, weit fort.«
»Wie kommst du darauf?«
»Weil alles besser ist als eine solche Oral-Akupunktur«, meinte Pascoe.
Aber noch während er sprach, gingen ihm die Gründe für Ellies Zweifel auf, denn als Roote schließlich den Mund öffnete, um zu antworten, zeigte sich auf Linda Lupins Gesicht so etwas wie … nein, ein richtiges Lächeln. Sie stritten sich nicht, sie sprachen miteinander.
»Ich dachte, sie wäre eine aufrechte Anglikanerin vom alten Schlag. So nach dem Motto: hilf den rechtschaffenen Armen und pfeif auf den Rest, und bloß kein Herumgefurze in der Kirche«, meinte er enttäuscht. »Ich habe mich schon darauf gefreut, daß sie Franny den Kopf abreißt.«
»Lebst du eigentlich hinterm Mond, Peter? Unsere Linda ist natürlich eine moderne, mystisch angehauchte Gefühlschristin. Ihr neuester Spleen ist ihr Engagement für die Third-Thought-Counselling-Bewegung … Hast du noch nichts von der Third-Thought-Therapie gehört?«
»Hat das vielleicht was mit der University of Third Age zu tun?«
»Nur, was die Zielgruppe betrifft. Im Untertitel nennen die sich ›Hospiz für die Seele‹. Ein belgischer Mönch ist der Gründer. Im wesentlichen geht es darum, Strategien zu entwickeln, wie man mit dem Tod klarkommt. Die Kernaussage lautet: Man sollte nicht warten, bis der Tod einen holt, sondern sich ihm stellen, solange man noch geistig und körperlich auf der Höhe ist.«
»Und Third Thought?«
»Ich weiß, daß du beim Zeitunglesen kaum über den Sportteil hinauskommst, aber wie steht’s eigentlich mit deiner Schulbildung?«
»Doch nicht etwa Beddoes, oder?« fragte Pascoe.
Der Kerl tauchte immer wieder auf. Die letzte Zeile von Rootes Nachruf ging ihm nicht aus dem Kopf …
…
Verscholl’ne, Ertrunk’ne im glücklichen Grab.
Hatte es im Ersten Dialog nicht geheißen, der ertrunkene Pannenhelfer habe ein glückliches Grab gefunden?
»Sei nicht albern«, meinte Ellie. »Der große Meister persönlich. Will the Shake. Prospero. ›Dann zieh’ ich in mein Mailand, wo jeder dritte Gedanke dem Grab soll gelten.‹ Das gibt’s doch nicht, daß du das nicht erkennst.«
»Nicht jeder hatte Gelegenheit, im Schultheater den Caliban zu spielen«,
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