Die Rättin
anstelle meiner Versuche, Oskar wieder in Gang zu setzen, lieber das Dritte Programm, den Schulfunk für alle hört: etwas über Fixsterne, Lichtgeschwindigkeit und fünftausend Lichtjahre entfernte Galaxien...
In gleichbleibender Haltung, sie mit angelegten Ohrmuscheln und immerfort spielenden Witterhaaren, die Augen wie Glasperlen blank, er im Schwarzrock, hinter dickglasiger Brille und inwie auswendig gesalbt, so hören die Weihnachtsratte und der Prälat aus Oliva mir und Herrn Matzerath zu, wie wir beide vom Maler Malskat berichten. Natürlich weiß der Prälat, daß der Mercedes mit dem beredten Männlein sogleich abfährt, worauf die Kirche das letzte Wort haben wird; wie meine Weihnachtsratte weiß, daß ich ihr zuhören muß, sobald sie mir träumt.
Doch noch bin ich dran. Die Rättin muß warten. Dem Ende falls es zu Ende gehen sollte, läuft die Posse voran...
Ab Winter neunundvierzig/fünfzig turnte er in dreißig Meter Höhe alleine und erfinderisch zuerst im Langhaus, dann im Hochchor der Lübecker Marienkirche, denn sein eleganter immer Kontakte suchender Arbeitgeber kam selten so hoch nach oben. Dietrich Fey gab sich unten, im Bauschutt, geschäftig. Er mußte seinen Malskat abschirmen. Kein unbefugtes Auge durfte sehen, wie das Wunder von Lübeck Gestalt gewann. Deshalb hatte er überall warnende Schilder aufstellen lassen: »Achtung Absturzgefahr!« »Vorsicht!« »Für Unbefugte kein Zutritt!«
Unbefugt, so hoch nach oben in Malskats Bereich zu steigen, waren selbst Gerüstarbeiter und Maurer. Kam sachkundiger Besuch, darunter inund ausländische Kunsthistoriker, die ab Anfang einundfünfzig einzeln und in Gruppen anreisten, lösten Fey und seine Gehilfen mit Zugleinen Klappergeräusche aus, die Malskat hoch oben zu warnen hatten. Meist gelang es Fey, die Experten mit Kopien abzuspeisen, die nebenbei für Informationszwecke und eine Wanderausstellung entstanden waren; alle Duplikate von Malskats Hand.
Die Wanderausstellung wurde landesweit ein Erfolg, zumal der Bundespräsident und der König von Schweden vor etlichen Schautafeln anerkennend genickt hatten. In Zeitungen und Vorträgen wiederholte sich die Neuprägung »lübischer Stil«. Als »Wiege der Gotik« kam die Stadt zu Ehren. Von einer Werkstatt wurde gesprochen, die ab Ende des dreizehnten Jahrhunderts unter Anleitung eines genialen Dommeisters stilbildend gewirkt habe. Das Wunder von Lübeck fand Glauben.
Kein Wunder, daß es dem Landeskonservator Dr. Hirschfeld, der als erster Zweifel äußerte, nicht gelang, seine Kritteleien aufrechtzuerhalten. Schließlich wurde er an sich selbst irre und schrieb in seinem Buch von St. Marien zu Lübeck: »...Im Hochchor und Langhaus Obergaden empfinden wir vor den Werken des Meisters ganz unmittelbar jene gewaltige Zeugniskraft, die nur das Original besitzt.«
Im Juni einundfünfzig zog noch einmal Gefahr auf, als sich anläßlich einer Tagung westdeutscher Denkmalpfleger, die extra des Wunders wegen nach Lübeck gekommen waren, etliche Herren in die Marienkirche begaben und sich von Fey nicht abhalten ließen, hoch ins Gerüst zu steigen. Bescheiden trat Malskat zur Seite. Fey erklärte, wies nach, war mit Engelszungen beredt und konnte doch nicht verhindern, daß die Professoren Scheper und Deckert Bedenken äußerten und trotz aller Feyschen Redekunst mit restlichen Bedenken aus dem Gerüst stiegen.
Als freilich tags darauf alle in Lübeck versammelten Denkmalpfleger zusammentrafen, geschah abermals ein Wunder: Keine Anklage wurde erhoben, vielmehr forderten die Kongreßteilnehmer die Regierung in Bonn auf, weitere hundertfünfzigtausend DM in die Kasse der Lübecker Kirchenleitung fließen zu lassen. Das freute den Oberkirchenrat Göbel; aber auch Malskat, der seinen Stundenlohn gesichert sah. Weitere Störungen waren kaum ernst zu nehmen. Als eine Studentin die Thesen ihrer Doktorarbeit »Die Wandmalereien in der Lübecker Marienkirche« an Ort und Stelle überprüfen wollte und heimlich ins Gerüst stieg, wurde sie von Fey erwischt, der sanft aber nachdrücklich auf die Gefahren ihrer Kletterei hinwies. Obgleich sie leichte Gerüstschuhe trug und sich schwindelfrei nannte, durfte sie nie wieder zu Malskat hoch. Dennoch stellte die Studentin, nach nur flüchtigem Augenschein oben, unten angekommen kritische Fragen. Anhand der Fotos und Kopien wies sie auf romanische Elemente im Faltenwurf hin. Ihr Erstaunen über die Leuchtkraft der Farben im Hochchor war mit Zweifeln untermischt. Es hätte
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