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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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»Verehrte Frau Großmutter« und stellt sich als Enkelsohn vor: »Ich bin, Sie erinnern sich gewiß, Oskar, jadoch, der kleine Oskar, der mittlerweile nun auch bald sechzig zählt...« Da Anna Koljaiczek nur sprechen kann, wie sie immer gesprochen hat, tätschelt sie zuerst, ohne vom Rosenkranz zu lassen, des kleinen Mannes Hand und sagt dann immer wieder: »Hädd ech jewußt doch, daß kommen mechst, Oskarchen, hädd ech jewußt doch...«
Dann sprechen beide von alten Zeiten. Was alles gewesen und nun vergangen ist. Wie es immer schlimmer kam und nur manchmal ein bißchen besser wurde. Was alles hätte sein sollen und doch ganz anders schiefging. Wer schon tot ist und wer noch hier und da lebt. Und wer seit wann auf welchem Friedhof liegt.
Ich bin sicher, daß beide zu Tränen kommen, sobald von Anna Koljaiczeks Tochter, Herrn Matzeraths Mutter Agnes die Rede ist: von Jan und Agnes und Alfred und Agnes und von Jan, Agnes und Alfred. Doch weil die dichtstehenden Gäste wieder miteinander beschäftigt sind und nicht aufhören wollen, sich lärmig zu begrüßen, kann ich von diesem Gespräch nur wenige Sätze aufzeichnen. Da ist viel »Waißte noch, Oskarchen« zu hören und immer wieder: »Da mecht ech miä noch lang dran äinnern.«
Endlich und nachdem beiläufig nach Maria und Kurtchen gefragt wurde, höre ich die Frage: »Warst och schon bai de Post ond hast jeguckt, wo jewesen ist?«
Worauf unser Herr Matzerath seiner Großmutter verspricht: Er werde am nächsten Morgen das mittlerweile historisch gewordene Gebäude am Rähm, die Polnische Post aufsuchen und seines Onkels Jan gedenken.
Dann nimmt er Abschied und will zeitig »am morgigen Ehrentag« wieder da sein. »Darf ich, liebe verehrte Großmutter, wie damals, Sie erinnern sich, als wir auf dem Güterbahnhof Abschied nahmen, Babka, liebe Babka zu Ihnen sagen?« Den Buckel unter großkariertem Jackett, so sehe ich unseren Herrn Matzerath im Gedränge verschwinden. Jetzt ist er wieder zwischen den Bronskis und Woykes erkennbar. Säuerlich riecht die Enge, als wäre die Gute Stube mit Molke gewischt worden. Wiederholte Begrüßung mit den amerikanischen Colchics. Kasimir Kurbiella lädt ihn mit erstem Satz nach Mombasa ein. Überaus zierlich nimmt sich die Chinesin zwischen so vielen Kaschuben aus. Endlich, nach zwei wasserklaren Kartoffelschnäpsen und einer letzten Pirogge, sucht er den Weg zum Mercedes, in dem Bruno unbewegt sitzt und als Chauffeur mit Mütze den Stern auf der Kühlerhaube vor begehrlichem Zugriff bewacht.
    Seine Schuhe, Größe fünfunddreißig, sind um die Spitze und um die Hacke aus safrangelbem, um den Mittelfuß aus weißem Leder. Meine Weihnachtsratte muß sich anhören, wie ich unseren Herrn Matzerath ausputze: Er trägt eine goldgefaßte Brille und zu viele Ringe an kurzen Fingern. Die rubinbesetzte Krawattennadel gehört zu seiner Ausstattung. Wie zu kühleren Jahreszeiten einen weichen Velour, trägt er den Sommer über Strohhüte. In seinem Mercedes läßt sich ein Tischchen ausklappen, auf dem er, sobald ihn längere Reisen ermüden, mit offenen Karten gegen jemand und noch jemand Skat spielt; wie sich Oskar später freuen wird, wenn er während der Rückfahrt zum Hotel Monopol ein Herzhandspiel gegen Jan Bronski und seine arme Mama gewinnt.
Selbst hier, bei seiner Großmutter zu Besuch, im Herzen der Kaschubei, kann er nicht aufhören, die fünfziger Jahre umzugraben, als wären in diesem Acker besondere Schätze verbuddelt worden. Es ist der Prälat aus Oliva, ein wie gesalbt freundlicher, der deutschen Sprache eher zurückhaltend mächtiger Herr, der sich die Geschichte vom täuschend gotisch malenden Maler Malskat anhören muß, geduldig und zum Zuhören bestellt; wie meine Weihnachtsratte da ist, mich anzuhören.
Nachdem unser Herr Matzerath einem streitnahen Geplänkel unterm Kastanienbaum ausgewichen ist es ging um die verbotene Gewerkschaft Solidarno[ -, begleitet der Prälat das bucklichte Männlein mit der rubinbesetzten Krawattennadel und den zweifarbigen Schühchen zum Mercedes, dessen Blechschäden ins Auge fallen. Abendsonnenschein auf dem blanken Schädel, den Strohhut vor der Brust, spricht Oskar wie vor größerer Versammlung. Ich höre den Prälaten seufzen und weiß nicht, ob er der Matzerathschen Theorien wegen seufzt oder ob es das Wort »Solidarno[« ist, das nach dem Staat nun der Kirche Sorgen bereitet. Seine katholische Geduld erinnert mich an die Gelassenheit meiner Weihnachtsratte, die
ich bin sicher

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