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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Jubelchöre, die »Die Neue Ilsebill« begrüßen und den Kurs des Schiffes leiten, denn immer, wenn sich der Bug nach Westen in Richtung Greifswalder Bodden richtet oder allzu östlich die polnische Küste, die Insel Wollin ansteuert, nimmt der Gesang ab, um auf strikt südlichem Kurs wieder zu jubeln.
Damroka hat die vergilbte Karte, in der das Vinetatief eingezeichnet ist, aus dem Seesack geholt und ausgebreitet. Östlich der Insel Rüden, nördlich Peenemünde steht oberhalb der Markierung der Name der versunkenen Stadt geschrieben. Damroka hört einzig auf den wegweisenden Medusengesang, steuert entsprechenden Kurs und sieht die Karte bestätigt. Spät am Abend ankern sie über der bezeichneten Stelle. Doch weil die See eingedunkelt keinen Blick mehr in die Tiefe erlaubt, müssen die Frauen den nächsten Morgen abwarten, so gerne sie jetzt schon ihre Stadt bewohnen möchten.
Auch unterm ausgesternten Nachthimmel will der Medusengesang nicht abklingen. Es bleibt ein von sanftem Atem getragener Ton. Damroka will ein Kyrie, später ein Agnus Dei hören. Die Meereskundlerin hört Elektronisches, die Alte eine Wurlitzerorgel. Entweder der Steuermännin oder der Maschinistin fallen als Vergleich Sphärenklänge ein. Noch lange sitzen sie dicht bei dicht hinterm Steuerhaus und hören, was sie hören wollen, bis sie Damrokas Mahnung, »Wir sollten morgen gut ausgeschlafen sein«, folgen. Sie finden in ihre Hängematten doch keinen Schlaf.
Morgen ist Sonntag. Ich weiß nicht, ob später noch einmal der Butt gerufen wird. Und wenn ich es wüßte, hörte ich dennoch nicht, was er zu sagen weiß.
Neinnein, Rättin! Noch jemand kommt ans Ziel. Dich will ich nicht hören, rief ich, dich nicht! Es muß noch die andere Reise zu Ende gehn.
Da sagte die Rättin, von der mir träumt: Ist ja gut, Freundchen. Auch wenn das alles vergangen und ausgelebt ist, bleib nur bei deiner Gegenwart und sage: Sie wälzen sich in den Hängematten, er fährt im dicken Mercedes die Grunewaldska hoch auf das Olivaer Tor zu, die Frauen werden morgen in aller Frühe, er wird noch heute, sogleich...
Am Sonnabendnachmittag trifft unser Herr Matzerath mit Chauffeur in GdaDsk ein, wo beide im Hotel Monopol, dem Hauptbahnhof gegenüber, vorbestellte Zimmer beziehen. Nach kurzem Stadtbummel inmitten zu vieler Touristen, die das Gesehene mit Sehenswürdigkeiten auf Postkarten vergleichen, und nachdem er vom Stockturm aus durchs Langgasser Tor in die Langgasse gefunden und dort, nach Seitenblicken in Nebengassen, sein Danzig zwar gesehen, aber nicht wiedererkannt hat, beschließt er, obgleich der Neptunsbrunnen und das brakige Mottlauwasser anheimeln, noch heute, am Vorabend des Geburtstages, in die Kaschubei zu fahren und sich einen kurzen Umweg nur durch die Straßen seiner Kindheit im Vorort Langfuhr zu erlauben; aber nicht zu beschwichtigende Unruhe treibt ihn dergestalt überhastet in Richtung Großmutter oder ist es ihr Sog, der zerrt, saugt, ihn zieht? -, daß Oskar nach nur flüchtigem Augenschein im Labesweg und vorm gestreckten Ziegelbau der Pestalozzi-Schule, alles Gesehene als verloren abtut und sich nicht in die Herz-Jesu-Kirche, womöglich vor den Marienaltar stellen will; vielmehr drängt er seinen Chauffeur, nun direkt, über Hochstrieß und Brentau, den Weg nach Matern zu suchen, wo Anna Koljaiczek, seit ihrer Vertreibung aus Bissau-Abbau, Wohnung in einem niedrigen Häuschen gefunden hat.
Ein Garten gehört dazu mit Apfelbäumen und Sonnenblumen am Zaun. Schon vor dem Haus stehen unterm Kastanienbaum Gäste zur Vorfeier versammelt. Die niedrige Gute Stube, in der die Großmutter morgen hundertundsieben Jahre alt sein wird, ist zu eng, alle zu fassen, die von nahbei und weitweg gekommen sind.
Bruno ist beim Mercedes geblieben, der die Kaschubenkinder anzieht. Da steht nun unser bucklicht Männlein zwischen den Woykes und Bronskis, den Stommas und Kurbiellas, den weitgereisten Vikings, Bruns und Colchics. In maßgeschneiderter Kluft deutet er Verbeugungen an und mischt sich zwischen die Festgäste unterm Kastanienbaum, die sich, wie er nun leibhaftig da ist, verwundern, obgleich unseres Herrn Matzerath Legende allen bekannt und seinem Mercedes vorausgelaufen zu sein scheint. Ein nicht nur familiäres Lächeln empfängt ihn, als wolle man sagen: Wir wissen Bescheid. Dennoch stellt er sich diesem und jenem Gast vor und findet in Sigismund Stomma, jenem stattlichen Fahrradhändler, der mit Frau und zwei halbwüchsigen Kindern von Gelsenkirchen

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