Die Rättin
Frauen als Henker erwähnt. Von weiblichen Kapitänen sogar erzähle eine Legende. »Doch dann sind fremde Leute, hundertunddreißig Weiber und Kerle von der Weser hergekommen, wo sie ein Stadtpfeifer, der aber ein reisender Werber war, mit honigsüßen Versprechungen abgeworben hat. Neusiedler hat man die genannt. Mit ihrer Ankunft das war auf Martin anno zwölfhundertvierundachtzig beginnt der Untergang der Stadt Vineta, denn die Kerle unter den Neusiedlern sind strikt gegen die Weiberherrschaft gewesen und haben außerdem vieltausend Ratten in ihrem Gefolge gehabt, weshalb auf dem letzten Stadtwappen unterm Truthahn eine Ratte zu sehen gewesen ist, und zwar das Geflügel mit nach rechts gerichtetem Schnabel, die Ratte läufig nach links «
Damroka holt die alte Seekarte aus dem Steuerhaus und deutet den Frauen bei wenig Licht ihren Ankerplatz. »Hier«, sagt sie, »der Peenemündung vorgelagert, erstreckte sich die Inselstadt weit nach Osten. Wir ankern über der Stadtmitte. Es soll sich die See vor der Sturmflut so unbewegt wie heute geglättet haben. Auch sagt man, es sei ein Quallenjahr gewesen und Gesang, wie von Engeln gesungen, habe überm Wasser gelegen.«
Darauf beschließen die Frauen, noch einmal Schlaf zu suchen. Am Sonntagmorgen wollen sie prüfen, ob ihr Ankerplatz, wie die vergilbte Seekarte behauptet, zu Recht Vineta heißt; nicht nur die Meereskundlerin zweifelt.
Schon in den Hängematten sagt Damroka: »Übrigens soll die Sturmflut an einem Sonntag gekommen sein. Deshalb hört man bei Windstille heute noch Glockengeläut «
D ASACHTEKAPITEL, indem fünf Gedenkminu-
ten vergehen, der Geburtstag seinen Verlauf nimmt, die Rättin von Irrlehrenberichtet, der Kuckuck imFilmund inWirklichkeitruft, die Frauen sich schön machen, Oskar unter die Röcke kriecht, fast alles seinEnde findet und auf dem Bischofsberg Kreuze errichtet werden.
Früh, ein Stündchen früher als sein Chauffeur frühstückt und noch bevor seiner Großmutter im Lehnstuhl von des Priesters Hand die heilige Kommunion zuteil wird, am frühen Sonntagmorgen läuft unser Herr Matzerath vom Hotel Monopol kurzbeinig durch die teils neubebaute, teils restaurierte Altstadt in Richtung Hakelwerk zum Rähm, wo, zwar geschlossen, doch anschaulich genug, das ziegelrote Gebäude der Polnischen Post aus Zeiten, als Danzig Freistaat war, auf ihn, den Zeugen und Täter, den Überläufer und Mitwisser wartet; denn eine dem historischen Komplex vors Portal gelegte Steinplatte reiht in Keilschrift die Namen aller polnischen Postbeamten, die zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, der hier, genau hier anfing, nur mäßig ausgebildet aus Fenstern und Dachluken zurückschossen; bis auf die Toten und zwei drei Flüchtlinge, gerieten sie bald in Gefangenschaft und wurden, nahe dem alten Friedhof Saspe, allesamt exekutiert. Er putzt seine goldgefaßte Brille. Er sucht und findet den Namen seines Onkels in Stein gekerbt. Einen Schritt Abstand nimmt er und steht, den Strohhut seitlich gehalten, die weißgelben Schuhe nebeneinander gestellt. Nahes und fernes Glokkengeläut gilt nicht ihm. Niemand schießt, auf daß die Szene tatsächlich wird, das beweisführende Foto. So bietet er frühen Kirchgängern, die sich in Richtung Sankt Marien oder zur Katharinenkirche hin beeilen, das Bild eines kleinwüchsigen älteren Herrn, der westlich gekleidet an seinem Buckel zu tragen hat und dessen Nachdenklichkeit sich auf die Granitplatte vor dem Postgebäude zu konzentrieren scheint. Ich bin sicher, daß unser Herr Matzerath nicht nur an seinen Onkel Jan Bronski und seine arme Mama denkt, sondern auch den Oskar von damals zurückruft, jenen Unschuldsengel, der an allem teilhatte, ohne teilzunehmen. Jetzt immerhin ist er da und nicht gleichzeitig weg. So sieht es aus. Mit gesenktem Kopf steht er auf Geheiß seiner Großmutter in sich gekehrt. Die Morgensonne setzt seinem Schädel Glanzlichter. Ab und zu Wolken, die ihn verschatten.
Es mögen fünf Minuten sein, die nun vorbei sind, denn er löst sich, zögert, gibt dem Hut seinen Platz, wendet kurzentschlossen und geht mit raschen Schritten, doch gewiß in Gedanken die schwer an sich tragen, den Weg zurück. Vorm Hotel Monopol steigt er, nachdem ihm jemand halblaut einen günstigen Devisenhandel vorgeschlagen hat, in den wartenden Mercedes.
Er muß seinem Chauffeur keine Anweisungen geben, vielmehr beweist ihm Bruno, wie am Vortag schon, daß er ortskundig ist. Aus lange verjährten Erzählungen, in deren Verlauf
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