Die Rättin
Straßenbahnschaffner Station nach Station ausriefen und auch sonst aller Hinund Rückwege gedacht wurde, kennt sein ehemaliger Pfleger die Verkehrslage: Schon fahren sie abermals vom Olivaer Tor durch die Grunwaldska, die seinerzeit Große Allee, später Hindenburgallee hieß, nun durch Langfuhrs Hauptstraße, die ebenfalls mehrmals den Namen wechselte, jetzt links ab Hochstrieß hoch, an den Husaren-, später Schutzpolizei-, dann Wehrmacht-, jetzt Milizkasernen vorbei, bis sie hinter Brentau, in dessen sandiger Friedhofserde seine arme Mama liegt, ins gehügelte Land der Kaschuben kommen. Zu viele Erinnerungen. Er zerstreut sich mit einer Zeitschrift, die münzkundig ist.
Vor dem Häuschen seiner Großmutter sind unterm Kastanienbaum schon wieder Verwandte versammelt. Es sieht aus, als seien sie seit gestern noch da. Doch heute hängt die aus Kornblumen geflochtene Zahl Hundertundsieben über der Haustür zur Küche, deren drei Innentüren nach hinten zum Stall, nach rechts in die Schlafkammer, linker Hand in die Gute Stube führen und die alle offenstehen, denn überall, sogar im seit Jahren leeren Kuhstall, sitzen auf Bänken, Schemeln und Stühlen, stehen dichtgedrängt Gäste und trinken gesüßten Rhabarbersaft oder so früh am Tage es ist wasserhellen Kartoffelschnaps, dessen Vorrat sich wundersam zu vermehren scheint.
Neben Anna Koljaiczeks Lehnstuhl, in dem sie sitzt, als wollte sie ihn nie wieder verlassen, steht ein Tisch, auf dessen ihr naher Hälfte noch immer hundertundsieben Kerzen brennen, die kirchlicherseits gestiftet wurden, und dessen andere Hälfte schon jetzt mit Geburtstagsgeschenken beladen ist. Bewundert wird ein galoppierendes Porzellanpferd, dessen Schweif kühn auslädt und das, in all seiner Zerbrechlichkeit, vom Ehepaar Bruns aus Hongkong in die Kaschubei eingeführt wurde. Ganz in rotgelb geblümte Seide gehüllt und mit huschendem Fingerspiel erklärt Lady Bruns, das Roß sei getreulich den Porzellanrössern der Ming-Zeit nachgebildet. Die Vikings fanden es richtig, von Australien her ins fleischarme Polen einen Elektrogrill einzuführen, der nun, weil technische Perfektion an sich sehenswert ist, vor aller Augen probelaufen muß. Man staunt, wie des Küchengerätes nackter Drehspieß auf Knopfdruck langsam beschleunigt, in Eile schnurrt und durch Klingelzeichen Signale gibt, die gegebenenfalls des Fleisches Zustand, gar oder halbgar, zu melden verstehen.
Vom Michigansee brachten die Colchics einen überlebensgroßen Bronzekopf, dessen Charakterzüge nach einem Foto der zwanziger Jahre gefertigt wurden. Posthum soll die Bronze jenem schnauzbärtigen Josef Koljaiczek gleichen, der zu Kaiser Wilhelms Zeiten als politischer Brandstifter verfolgt wurde und bei Anna Bronski, die sich später Koljaiczek nannte, dergestalt Unterschlupf fand, daß ihrer Liebe Frucht, Agnes gerufen, zur Welt kam, aber Josef, nun als Familienvater, abermals flüchten mußte, bis er nach längerem Untertauchen in Chicago ans Licht trat, dort im Holzhandel ein Vermögen machte, viele Koljaiczeks, die sich später Colchics nannten, ins Leben rief, sogar Senator hätte werden sollen, doch im Februar fünfundvierzig, als die zweite sowjetische Armee unter Befehl des Marschalls Rokossowski über die Kaschuben kam, trotz räumlicher Distanz an Herzschlag starb; es soll Anna, als sie das Mitbringsel aus Amerika, ihren bronzenen Josef sah, nach einigem Nachdenken gesagt haben: »Bai miä hädder länger lebich jewest sain meegen.«
Aus Mombasa jedoch, einer afrikanischen Stadt am Indischen Ozean gelegen, hatte Kasimir Kurbiella eine etwa stuhlhohe, aus Ebenholz geschnitzte und tiefschwarz polierte Frau gebracht, die mit Fettsteiß und Spitzbrüsten allseits langgliedrig befremdete, bis der Prälat aus Oliva das sündhafte Stück berührte, Kunst nannte, hob und kennerisch bis in alle Einzelheiten betrachtete.
Ich weiß nicht, was die Stommas aus Gelsenkirchen schenkten. Wahrscheinlich ist es jene batteriebetriebene, halbstündlich rufende Schwarzwälder Kuckucksuhr, die ihren Platz nun neben dem Herz-Jesu-Bild hat, das der Prälat mit handschriftlicher Widmung des Papstes polnischer Herkunft als Geschenk gebracht und eigenhändig, anstelle des von Fliegenschiß punktierten Abendmahlbildes, an die Wand gehängt hat.
Was soll ich noch an Geburtstagsgaben aufzählen? Die zwischen Kartuzy und Wejherowo ansässigen Kaschuben sind arm zwar, doch schenken sie gern. Sie legten Häkeldeckchen zu lammfellgefütterten Hausschuhen
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