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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Privatinteressen verfolgt. »Na, darin warst du schon immer stark: Das hört jetzt auf. Ab morgen bestimme ich den Kurs!« ruft die Steuermännin.
Nachdem sich die Maschinistin und gleichfalls die Meereskundlerin, ohne Gründe zu nennen selbst ich bleibe unerwähnt -, gegen Damroka gestellt haben, sieht es so aus, als könne es an Bord des Schiffes »Die Neue Ilsebill« zur Meuterei, nein, korrekt demokratisch zur Abwahl der Kapitänin kommen. Sogar die Alte schwankt und redet mal so und mal so. Da endet um Mitternacht kaum rief die Steuermännin:
    »Auch dein Gerede mit dem Butt geht uns auf die Nerven!« der Medusengesang; er klingt nicht aus, er bricht ab, als habe ein Taktstock das Wettsingen der Chöre für immer abgeklopft. Nur noch des Schiffes Eigengeräusche. Und wenn den Frauen zuvor der Singsang der Quallen unerträglich war und sie streitbar machte, empfinden sie nun die plötzliche Stille als ohrenbetäubend.
Als erste springt die Alte aus der Hängematte. Einen Schnaps will sie trinken und noch einen. »Sag ich ja«, ruft sie, »ein unerklärliches Phänomen!«
Die Meereskundlerin will es genauer wissen. Mit Hilfe der Maschinistin legt sie zum Quallenhol ein Ringnetz aus, das steuerbord, dann backbord langgeführt wird, zweimal, und jedesmal ist der Netzsack ohne Quallenbefund. Auch sonst nichts, kein Stichling.
Beklommenheit legt sich über das Schiff. Die Meereskundlerin knabbert Fingernägel. Jetzt will auch die Maschinistin einen Schnaps und noch einen. Die Steuermännin weint erst verdrückt, dann laut: sie will nicht gemeint haben, was sie im Streit gesagt hat. Zu fünft hocken, sitzen, stehen sie hinterm Steuerhaus unter fast geschwundenem Mond und hören Damroka zu, die, als müsse sie Kindern Ängste wegreden, von der wendischen Siedlung Jumne erzählt, die später, nachdem sie von Wikingern und Dänen zerstört worden war, wiederaufgebaut und Vineta genannt wurde. Anfangs stand neben dem Fischerdorf Jumne, das sich zur Stadt auswuchs, die Jomsburg als Zuflucht der Wikinger. Damroka weiß Geschichten von Gorm dem Alten und Harald Blauzahn, der auf der Insel Usedom den Wendenfürst Burislav besiegte. »Das war vor gut tausend Jahren«, sagt sie, »als sich Blauzahn und Burislav gleich nach der Totschlägerei handelseinig wurden. Von einem Enkel dieses Burislav, der Witzlav hieß und eine Tochter des Kaschubenfürsten Swantopolk zur Frau nahm, die Damroka gerufen wurde, soll ich abstammen, wird behauptet.« Sie erzählt von unruhigen Jomswikingern, die raubend, erobernd bis nach Island, Grönland unterwegs waren. »Mit Haithabu trieben sie Handel. Und von den Küsten Amerikas, die sie lange vor Kolumbus zu plündern begonnen hatten, brachten sie neues Geflügel mit, kollernde Truthähne, die später gerne von gotischen Kirchenmalern gepinselt wurden. Doch in Jumne blieben die Leute seßhaft. Sie trieben Handel, verhökerten Raubgut und machten aus wilden Truthühnern lärmende Haustiere. Deshalb soll Jumnes Wappentier anfangs ein heraldischer Truthahn gewesen sein.«
Weil die See so entsetzlich still bleibt und das ankernde Schiff nicht mehr von Medusen umschwärmt und mit Jubelchören gefeiert wird, versucht Damroka, ihre Schiffsfrauen mit Truthahngeschichten aufzuheitern. Doch selbst komische Wikingernamen die Kerle hießen Thorkel, Pal und Knuddel sind den Frauen nicht lächerlich.
Damroka sagt: »Die schlugen sich alle tot. Und Jumne wurde reich, dann wieder arm, drauf abermals reich und so weiter, ihr kennt ja diese Männergeschichten. Später hieß es: Jumne habe drei Tage lang gebrannt, so vollgestopft mit Zunder sei die Stadt gewesen. Aber das glaub ich nicht. Eher hat Adam von Bremen recht, der die Ostseeküste bis zur Odermündung bereiste und von den slawischen Stämmen der Witzen und Vineter berichtete, die Jumne in Besitz nahmen, worauf die Stadt wenig später, nachdem sich ein Haufen anderer Kerle totgeschlagen hatte, Vineta hieß und reich und schließlich stinkreich wurde, bis die Flut bei Nordweststurm kam, das war um zwölfhundertnochwas. Doch gibt es andere Berichte, die alle ein bißchen falsch, ein bißchen richtig sind...« Sie kann kein Ende finden. Ihre Geschichten machen hungrig nach mehr. Gerne hören die Frauen, wie ihnen Damroka sanfte Herrschaft ausmalt, die von der Weiber Schlüsselgewalt bestimmt wird. Sie sagt, es habe neben dem Frauenrat einen Männerrat gegeben. Mit den männlichen sei von weiblichen Schöffen Recht gesprochen worden. Deshalb finde man auch

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