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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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ihr Müll, der strahlt, und ihr Gift, das aus Fässern suppt. Niemand wüßte von ihnen, gäbe es uns nicht, fistelten die Rattenwürfe und Wurfeswürfe. Jetzt, da sie weg sind, läßt sich ihrer freundlich, sogar mit Nachsicht gedenken. Als ich mich nur noch an meinen Rollstuhl hielt, sprach wieder die Rättin allein: Ja, wir bewunderten ihren aufrechten Gang, diese Haltung an sich, ihr Kunststück über die Zeiten hinweg. Jahrhundertelang unterm Joch, auf dem Weg zum Schafott, lebenslänglich durch Korridore, von Vorzimmer zu Vorzimmer abgewiesen: immer gingen sie aufrecht bis gebeugt, krochen nur selten auf allen vieren. Bewundernswerte Zweibeiner: auf dem Weg zur Arbeit, in die Verbannung, schnurstracks in den Tod, auf dem Vormarsch rauh singend, stumm auf dem Rückzug. Wir erinnern des Menschen Haltung, ob er die Pyramiden Stein auf Stein setzte, die Chinesische Mauer fügte, Kanäle durch fiebriges Sumpfland zog, sich vor Verdun oder Stalingrad auf immer kleinere Zahl brachte. Sie blieben standhaft, wo sie Stellung bezogen hatten; und standrechtlich wurde erschossen, wer ohne Befehl nach hinten entwichen war. Oft sagten wir uns: In welche Irre sie gehen werden, auszeichnen wird sie ihr aufrechter Gang. Sonderbare Wege und Umwege; aber sie gingen sie Schritt nach Schritt. Und ihre Prozessionen, Aufmärsche, Paraden, ihre Tänze und Wettläufe! Schaut, lehrten wir unsere Würfe: Das ist der Mensch. Das zeichnet ihn aus. Das macht ihn schön. Hungrig beim stundenlang Schlangestehen, ja, selbst gekrümmt, geschunden von seinesgleichen oder unter erdachter Last, die er Gewissen nennt, vom Fluch seines rächenden Gottes beschwert, unter dem lastenden Kreuz. Schaut diese dem Leid immer anders bunt gewidmeten Bilder! All das steht er durch. Aufrecht geht er nach Stürzen weiter, als wolle der Mensch uns, die wir ihm immer nahe gewesen sind, Beispiel sein oder werden.
Nicht mehr mit Zischlauten und auf Rattenwelsch, ohne daß Zoirres aus ihr sprach, sanft redete die Rättin auf mich im Rollstuhl ein, der, ortlos schwebend, mehr und mehr dem Gestühl einer Raumkapsel glich. Sie sagte Freund zu mir, später auch Freundchen. Siehe, Freund: Schon üben wir den aufrechten Gang. Wir strecken uns und wittern gen Himmel. Und doch wird Zeit vergehen, bis wir der menschlichen Haltung mächtig sein werden.
Da sah ich einzelne Ratten, sah Würfe, sah Rattenvölker den aufrechten Gang üben. Zuerst in einem Niemandsland, das ohne Baum und Strauch wüst war, dann kam mir ihr Exerziergelände vertraut, plötzlich bekannt vor. Zuerst sah ich, wie sich auf Plätzen, dann auf Straßen, die zwischen schöngegiebelten Häusern auf Kirchenportale zuliefen, Ratten als Zweibeiner übten. Endlich tat sich das hochgewölbte Innere einer gotischen Hallenkirche auf. Zu Füßen aufstrebender Säulen standen sie, wennzwar für Sekunden nur, um sich, nach kurzem Abfall, abermals aufzurichten. Ich sah Rattenvölker gedrängt auf den Steinplattenböden des Mittelschiffes bis zum Altarraum, sah sie in Nebenschiffen bis vor die Stufen der Seitenaltäre drängen. Das war nicht Lübecks Marienkirche, nicht sonstige Backsteingotik der Ostseeküste, das war, kein Zweifel, die Danziger Hauptkirche Sankt Marien, die auf polnisch Ko[ciól Naj[witszej Panny Marii heißt, in der sich die Rattenvölker die neue Haltung einübten.
Gut, rief ich, wie gut! Es steht ja noch alles an seinem Platz. Jeder Stein auf dem anderen. Kein Giebel fehlt, kein Türmchen gestrichen. Wie soll denn Schluß sein, Rättin, wenn Sankt Marien, die alte Backsteinglucke, immer noch, was weiß ich, brütet!?
Mir war, als lächelte die Rättin. Nun ja, Freundchen. So sieht es aus, wie im Bilderbuch, alles getreulich noch da. Das hat Gründe. Es war auf Ultimo für die Stadt Danzig oder GdaDsk, wie immer du deinen Ort nennen willst, etwas Besonderes vorgesehen: etwas, das wegrafft und zugleich erhält, etwas, das nur Lebendiges nimmt, dem toten Gegenstand aber Respekt erweist. Sieh nur: kein Giebel gestürzt, kein Turmhelm geköpft. Erstaunlich noch immer, wie jedes Gewölbe auf seinen Schlußstein zueilt. Kreuzblumen und Rosetten, dauernde Schönheit! Alles außer den Menschen blieb heil. Wie tröstlich, daß nicht nur Müll von euch zeugt...
    Ertappte mich beim Vernichten von Knabbergebäck: Salzstangen, in Gläser gestellt,
aufgefächert zum Zugreifen.
    Anfangs biß ich einzelne Stangen
immer schneller und kürzer auf den Wert Null, dann rottete ich in Bündeln aus.
    Dieser salzige

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