Die Rättin
sehen möchte, winkt er ab: »Zuviel Endzeitkulisse! Dieses gottväterliche Schlußstrichziehen! Dieser apokalyptische Kassensturz! Dieser ewige letzte Tango!« Hingegen will er, nach seinen Worten freudig, den Fall Malskat aufgreifen, falls ich Material genug über die fünfziger Jahre beibringen könne; als lasse sich durch Rückgriffe Zukunft herstellen.
So wächst sich unser Gespräch für ihn zum Entwurf der Ära Adenauer-Malskat-Ulbricht aus. »Drei Meisterfälscher!« ruft er. »Wenn es Ihnen gelingt, meine, zugegeben, noch nackte These zu kleiden, wird sie filmisch einleuchtend sein.« Zwar versuche ich, unserem Herrn Matzerath sein gesamtdeutsches »Fälschertriumvirat« auszureden, verspreche ihm aber dennoch, dem Fall Malskat nachzugehen. Schließlich gelingt es mir, seine Neugierde auf ein Projekt zu lenken, dessen legendäres Unterfutter so reich an Zufluchten ist, daß es ihn eigentlich ködern müßte.
Sein Hin und Her zwischen Gummibäumen. Jetzt zaudert er vor der Schultafel an der Stirnwand seiner Chefetage. Kaum ist das bucklichte Männlein hinterm Schreibtisch zur Ruhe gekommen, sage ich: »Sie sollten aufhorchen, lieber Oskar. In Hameln an der Weser wird gegenwärtig ein Fest vorbereitet. Dort soll nach siebenhundert Jahren jenes Rattenfängers gedacht werden, der während Zeiten großer Wirrnis und fiebriger Ekstase man sah Zeichen am Himmel und ahnte das Ende kommen tausend und mehr Ratten in den Fluß gelockt hat, auf daß alle ersoffen. Nach anderer Legende soll er außerdem Kinder auf Nimmerwiedersehn entführt haben. Sich widersprechender Stoff genug. Wäre der Umstand nicht günstig, den Wahn des Jahres 1284 mit heutigen Ängsten, das Flagellantenwesen des Mittelalters mit gegenwärtigen Massenaufläufen mediengerecht zu verquicken? Angebote genug gibt das Rattenfängerjahr her. Zum Beispiel die Flöte. Diese schrille Süße. Flirrender Silberstaub. Triller, wie Perlen gereiht. Lange vor Ihrer Zeit verführte bereits ein Musikinstrument. Sollten nicht Sie, Oskar, dem schon immer das Medium Botschaft war, zugreifen, einfach zugreifen?!«
Unser Herr Matzerath schweigt und vergeht mir. Anderes redet drein. Dieses Zischeln, Plaudern und fistelnde Eswareinmal, als sei schon alles vorbei, als gäbe es uns im Rückblick nur noch, als müsse uns nachgerufen werden, spöttisch und pietätvoll zugleich das ist nicht mehr unser bucklicht Männlein, das ist sie, die Rättin, von der mir träumt...
Gegen Schluß wurden wir Mode. Junge Leute, die gerne in Gruppen auftraten und sich von sonstigen jungen Leuten durch Haartracht und Kleidung, Gestik und Sprache unterschieden, nannten sich Punks und wurden Punks oder Punker genannt. Zwar waren sie in der Minderheit, aber in einigen Stadtteilen dennoch bestimmend. Selber verschreckt, erschreckten sie andere. Eisenketten und schepperndes Blech war ihnen Schmuck. Sie stellten sich als lebenden Schrott zur Schau: verworfen, ins Abseits gekehrter Müll.
Wohl deshalb, weil sie dem Dreck zugeordnet wurden, kauften die Punks sich junge Laborratten, die sie durch regelmäßige Fütterung gewöhnten. Sie trugen sie zärtlich auf der Schulter, im offenen Hemd oder in ihre Frisuren gebettet. Keinen Schritt ohne das erwählte Getier, den Ekel überall hin verschleppt: auf verkehrsreiche Plätze, an satten Schaufensterangeboten vorbei, durch Parkanlagen und über Liegewiesen, vor Kirchenportale und Bankportale, als wären sie eins gewesen mit ihren Ratten.
Doch nicht nur die weißen mit roten Augen waren beliebt. Bald kamen grauhaarig wir, die als Schlangenfutter gezüchteten Wanderratten in den Tierhandel. Wir waren gefragt und kurz vor Schluß bei Kindern und Jugendlichen begehrter als die bis dahin gehätschelten, verwöhnten und oft überfütterten Goldhamster und Meerschweinchen. Als sich nach den Punks auch Kinder aus gutem Hause Ratten als Streicheltiere hielten und sich unsereins, zum erstenmal während langer Humangeschichte, die betuchte Klasse öffnete, fanden auch ältere Leute an uns Gefallen. Was als Mode begann, wurde erklärtes Bedürfnis. Es soll sich ein Herr, Mitte fünfzig, sogar auf Weihnachten eine Ratte gewünscht haben.
Endlich waren wir anerkannt. Indem man uns ans Licht trug, uns, die lichtscheuen Kanalratten, dem Gullygeruch enthob, wortwörtlich unsere Intelligenz entdeckte, sich mit uns sehen und fotografieren ließ, unsereins als dem Menschengeschlecht beigeselltes Getier akzeptierte, wurden wir Ratten öffentlich. Triumph! Nachträglich
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