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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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blickende Mann am Steuer wirkt gleichgroß. Ein Foto zeigt beide stehend vor dem Roller: nun deutlich verschieden hoch gewachsen.
»Aber das ist doch!« rufe ich. »Na klar doch! Ich erkenne ihn wieder, trotz seiner Fahrerkappe...«
Unser Herr Matzerath lächelt zwergwüchsig. Nein, er lacht inwendig, denn sein Buckel hüpft. »Richtig!« ruft er. »Das ist Bruno. Vormals mein Pfleger, aber auch Freund in schweren Zeiten. Eine treue Seele. Als ich ihn nach meiner Entlassung bat, mir auch außerhalb der Heilund Pflegeanstalt beiseitezustehen und mit mir die neugewonnene Beweglichkeit zu nutzen, machte er sogleich seinen Führerschein. Ein ausgezeichneter Fahrer, wenn auch eigensinnig. Doch was rede ich, Sie kennen ihn ja.«
Nun erzählt unser Herr Matzerath, wie er und Bruno Münsterberg im Jahr fünfundfünfzig »ganz von vorne angefangen haben«. Nach dem Messerschmitt-Kabinenroller sei es bald ein Borgward, dann aber doch ein Mercedes 190 SL gewesen, den sein Chauffeur immer noch fahre, mittlerweile ein seltenes Stück. Falls er nach Polen reise, wogegen einiges spreche, werde er sich diesem unverwüstlichen Zeugnis deutscher Wertarbeit anvertrauen. Übrigens sei damals, zu Kabinenrollerzeiten, jener Prozeß zu Ende gegangen, der nach dem Maler Malskat benannt wurde.
Doch wie er noch am Urteilsspruch nörgelt und Malskat als eine ihm verwandte Seele begreift, sogar vom »Großen Malskat« spricht, vergeht mir mit seinem Museum unser Herr Matzerath...
    Während ich in einem Rollstuhl angeschnallt saß, schrie ich, als wäre im Traum ein Lautsprecher greifbar gewesen: Wir sind da! Alle immer noch da! Ich laß mir nichts einreden!
Doch sie fistelte unbeirrt, anfangs unverständliches Rattenwelsch Do minscher gripsch Ultemosch! -, um dann deutlich zu werden: Gut, daß sie weg sind! Haben alles versaut. Mußten sich immer kopfoben was ausdenken. Hatten, selbst wenn Überfluß sie ersticken wollte, nicht genug, nie genug. Erfanden sich notfalls den Mangel. Hungernde Vielfraße! Dumme Bescheidwisser! Immer mit sich entzweit. Ängstlich im Bett, suchten sie draußen Gefahr. Überdrüssig der Alten, verdarben sie ihre Kinder. Sich Sklaven haltende Sklaven. Fromme Heuchler! Ausbeuter! Ohne Natur. Grausam deshalb. Nagelten ihres Gottes einzigen Sohn. Segneten ihre Waffen. Gut, daß sie weg sind! Nein, schrie ich aus meinem Rollstuhl, nein! Ich bin da. Wir alle sind da. Putzmunter sind wir und voller neuer Ideen. Alles soll besser, jadoch, menschlicher werden. Ich muß nur den Traum, diese Wirrnis abstellen, dann sind wir wieder, dann geht es weiter bergauf und voran, dann werde ich, sobald die Zeitung und gleich nach dem Frühstück...
Aber mein Lautsprecher unterlag ihrer Fistelstimme: Gut, daß sie nicht mehr denken, nichts sich ausdenken und nichts mehr planen, entwerfen, sich nie mehr Ziele stecken, nie wieder ich kann ich will ich werde sagen und nie wieder darüber hinaus wollen können. Diese Narren mit ihrer Vernunft und ihren zu großen Köpfen, mit ihrer Logik, die aufging, bis zum Schluß aufging.
Was halfen mir mein Nein, mein Ich bin, Ich bin immer noch; ihre Stimme hielt den Oberton, siegte: Weg sind sie, weg! Gut so. Sie fehlen nicht. Diese Humanen haben gedacht, es werde die Sonne zögern, aufund unterzugehen nach ihrem Verdampfen, Saftlassen oder Verglühen, nach dem Krepieren einer mißratenen Sorte, nach dem Aus für die Gattung Mensch. Das alles hat nicht den Mond, hat kein Gestirn gejuckt. Nicht einmal Ebbe und Flut wollten den Atem anhalten, wenn auch die Meere hier und da kochten oder sich neue Ufer suchten. Stille seitdem. Mit ihnen ist ihr Lärm vergangen. Und die Zeit geht, als sei sie nie gezählt und in Kalender gesperrt worden.
Nein! schrie ich, falsch! und verlangte Richtigstellung, sofort: Es ist jetzt, schätze ich, halb sechs in der Frühe. Kurz nach sieben werde ich mit Hilfe des Weckers aufwachen, diesen verdammt gemütlichen Rollstuhl, in dem ich wie angeschnallt sitze, verlassen und meinen Tag, Mittwoch, es ist ein Mittwoch! gleich nach dem Frühstück, nein, nach dem Zähneputzen, vor Tee, Roggenbrot, Wurst, Käse, dem Ei und bevor mir die Zeitung dazwischenquatscht, mit unbefleckten Vorsätzen beginnen...
Es war ihr aber nichts auszureden, vielmehr nahm sie an Zahl zu. Mehrere Würfe fistelten und überfüllten das Bild. Wieder ihr Rattenwelsch: Futsch midde Minscher. Stubbich Geschemmele nuch! Was heißen sollte: Nur noch Staubregen und gut, daß sie keinen Schatten mehr werfen.
Einzig

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