Die Rättin
Freifelder Sonnenblumen zu setzen, die von Ratten gegen Taubenfraß geschützt werden. Einleuchtend nenne ich diese Emblematik, zumal ja die Taube der Ratte entspricht: gleich zäh werden beide zukünftig sein...
Malskat ist nicht abgeneigt. Ich biete ihm eine Zigarette an, Juno natürlich. Wir plaudern über Filme mit Hansi Knoteck, die wir, jung an Jahren, beide gesehen haben. Zwanglos kommen wir wieder auf Tauben und Ratten zu sprechen. Er sagt: Es ließe sich dieses hochgotische Motiv leicht auf die Pest zurückführen, jene Plage, die ab Mitte des vierzehnten Jahrhunderts mit Hilfe der Schwarzen Hausratte und einer inzwischen ausgestorbenen Feldtaubenart in ganz Europa heimisch wurde, und als Gottesgeißel überall die Christenmenschen lehrte, das Weltende kommen zu sehn, auch in Lübeck, wo von zehn lebenden neun hingerafft wurden...
Neinnein! rufe ich und steige vom Gerüst. Das kriegen wir ohne Ratten und Tauben hin. Uns ist keine Pest als Gottesgeißel vonnöten. Der Mensch hat sich seit Malskats hochgotischen Zeiten weiterentwickelt. Ganz aus sich, selbstherrlich, mündig endlich, kann er Schluß mit sich machen und zwar gründlich, damit keine Restbestände sich quälen müssen. Deshalb setzt er schon jetzt der Natur und ihren Auswüchsen zu. Denn vor den Menschen muß dieser Wald weg, das gefühlige Unterholz, die vernunftwidrige Ausflucht, dieses unberechenbare König-Drosselbart-Reich...
Während noch immer Rotkäppchens Großmutter aus dem Wörterbuch vergessene Wörter liest, die der Wolf, der zurückbleiben mußte, gerne hört, und während die Grimmbrüder besorgt sind, es könne bei den nun anlaufenden Aktionen der Märchengestalten zu Übertreibungen und unkontrollierter Naturwüchsigkeit kommen; während Rapunzel mit dem wachküssenden Prinzen Domino spielt und sich die Hexe mit der Bösen Stiefmutter zum zeitüberbrückenden Mühlespiel findet; während das Mädchen seinen davongeflogenen Händen nachsinnt, säen die Guten und Bösen Feen, Raben und Krähen den Zaubersamen über Stadt und Land, auf Wohnsilos und Betonpisten. Hoch über weitläufigen Fabrikanlagen entlädt der fliegende Koffer unbemannt Saatgut.
Auch auf festem Grund und Boden bekommen Industrielandschaften unverhofften Besuch. Die Sieben Zwerge mixen Zaubersaft in die Zapfsäulen der Tankstellen: abgezählt wenige Tröpfchen nur. In U-Bahn-Stationen wird Rotkäppchens Korb leichter und leichter. Des Mädchens abgehauene Hände sind im Mastengestänge übers Land eilender Starkstromleitungen geschickt. Auf Bahnhöfen, unter Brücken sieht man Schrate, Erdmännchen und sonstige Winzlinge: ihr geschäftiger Eifer. An Ampelanlagen lassen die Sieben Geißlein was fallen. Keine Schaltstelle, an der nicht Rattenköttel zeugnishaft liegen; kein Schalltrichter, in den nicht Tauben ihre Kröpfe entleeren.
Zauberer eilen über verkehrsreiche Plätze. Der große Merlin überall. Jetzt begleitet er König Drosselbart, auf daß sich ihnen Tür und Tor öffnet. Kohleund Atomkraftwerke besuchen sie, die Farbwerke Hoechst und Bayer-Leverkusen. Wie hochvermögende Bosse, umgeben von beflissenen Herren, besichtigen sie Fließbänder in Wolfsburg, Köln, Nekkarsulm. Jetzt wird die Leopard-Montagestraße der KraussMaffei-Werke begutachtet. Merlin memoriert keltische Zaubersprüche, und Drosselbart erteilt Aufträge, diktiert Lieferfristen.
Indessen haben sich auf dem Rhein-Main-Flughafen hübsch aufgemachte Hexen und exotisch wirkende Wilde Männer unters reiselustige Publikum gemischt: auf Rolltreppen, beim Einchecken und als Stewardessen sehen wir sie. In Selbstbedienungsläden läßt Frau Holle aus buntgeblümten Kopfkissen hier und da Daunenfedern fliegen. Von Hochhäusern herab, in deren Etagen er Nadeln streute, läßt das Tapfere Schneiderlein seine große Zwirnrolle abspulen.
Kurz: Überall, wo sich Erwerbssinn regt, die Marktlücke entdeckt ist, der Bedarf gekitzelt wird und sich das Bruttosozialprodukt zu steigern verspricht, sind hier säende, dort tröpfelnde Kräfte subversiv tätig, keine Ritze im System bleibt unbedacht. Selten wurde das Getriebe der freien Marktwirtschaft aufmerksamer gewartet.
Lautlos, ohne daß Untertitel erklären müssen, werden Sprüche gemurmelt und Finger gekreuzt. In wechselnden Uniformen gelingt es dem Standhaften Zinnsoldaten, militärische Sperrbezirke der Bundeswehr und der verbündeten Schutzmacht zu betreten. Er wird, weil plötzlich ranghoch befördert, von Standortkommandeuren begrüßt. Er streichelt
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