Die Rättin
Panzer, Kanonen, Raketensilos, ist auf schnellen Kriegsschiffen zu Gast. Als Co-Pilot steigt er in überschallschnelle Flugzeuge. Sogar in Geheimakten darf er blättern und läßt überall, auch im Verteidigungsministerium, einige Kleinigkeiten körnchengroß liegen; so zerstreut ist der Standhafte Zinnsoldat.
Und schon wird die Gegenkraft wirksam: zuerst zögerlich, als traue der neue Frühling sich nicht, dann rasch und urplötzlich. Anfangs sind nur vegetative Veränderungen erstaunlich, dann hat das entfesselte Wachstum Menschenaufläufe zur Folge.
Pflanzen sprießen aus Schornsteinen und Brückenpfeilern, wuchern und greifen um sich. Autobahnpisten brechen auf und geben schnell rankendes Gewächs frei. Aus Fließbändern, Motoren, Rolltreppen, Fahrstuhlschächten, Automaten und Kaufhauskassen quillt Grünzeug. Die Kühltürme der Atomkraftwerke werden von Moos und Flechten befallen, desgleichen einsatzbereite Panzer und Überschallflieger. Algen übergrünen Fregatten und Raketenkreuzer bis hoch zur Radaranlage, als seien alle Kriegsschiffe, was ihnen ohnehin vorbestimmt ist, frühzeitig gesunken. Kletterpflanzen in Starkstrommasten, die Fernsehtürme hinauf. Geschützrohre treiben knospende, dann vielblättrige Äste. Bahnhöfe werden zu Treibhäusern. Den Rhein-Main-Flughafen überschwemmt tollwütig Grün. Aus allen Fenstern der Ministerien und Chefetagen kotzt sich Grün aus, nimmt einzig Grün zu.
Wachstum! Überall legt die Natur sich quer. Seltsame, vorher nicht gekannte Pflanzen fallen ihr ein, darunter solche, die Beton zermürben, Mauern brechen, Stahlrohre biegen, solche, die Karteikarten fressen und solche sogar, deren Saugnäpfe Daten löschen. Moose und Flechten sprengen die Bank. Parkettböden treiben Pilzkulturen. Mannshohe Buchstaben, die Firmennamen bilden, treiben Ableger und werden unleserlich. Unwiderstehlich nimmt Natur überhand. Kein Verkehr mehr in keine Richtung. Kein Rauch aus Schornsteinen. Keine Abgase, dicke Luft. Die anfangs erschreckten Menschen sind plötzlich lustig und haben Zeit.
Zwischen stillgelegten Produktionsanlagen, die sich zu botanischen Gärten auswuchsen, und auf übergrünten Autobahnen schlendern Grüppchen und Gruppen. Einzelne pflücken hier Blumen, entdecken dort sündhaft süße Früchte. Jungen und Mädchen klettern an rankenden Pflanzen hoch. Liebespaare hausen in Riesenerdbeeren. Überall lädt diese Frucht zu hintersinnigen Spielen ein. Offen steht allen der Garten der Lüste.
Deshalb halten Frauen und Männer, Kinder und Greise auf verkrauteten Plätzen Schilder und Transparente hoch, auf denen zu lesen steht: »Alle Macht den Märchen!« »Tief atmen, es lohnt wieder!« »Die Grimmbrüder sollen uns regieren!« »Endlich das richtige Wachstum!« »Wir fordern eine Märchenregierung!«
Während wir überall Menschen sehen, die sich lustvoll dem Müßiggang hingeben, verengt sich das Bild auf Schirmgröße des Zauberspiegels. Auch im Knusperhäuschen herrscht Freude. Arm in Arm: die Böse Stiefmutter und die Hexe. Wie nie zuvor dürfen Hänsel und Gretel kindlich sein. Einige Märchengestalten sind nach getaner Arbeit zurück. Nicht nur das Mädchen ohne Hände, sogar Jorinde und Joringel lächeln. Nur die Grimmbrüder wackeln mit den Köpfen bedenklich. (Auch unser Herr Matzerath wird, sobald er aus Polen zurück ist, gewiß Bedenken anmelden.)
»Das führt zu Chaos und Unzucht! Es muß aber eine gewisse Ordnung geben. Und zwar von Staats wegen oder gottgewollt. So darf es nicht weitergehen!« rufen abwechselnd Jacob und Wilhelm Grimm.
Nach einigem Zögern stimmen der Froschkönig nebst Dame, Schneewittchen und der wachküssende Prinz den Grimmbrüdern zu. Ermuntert von Schneewittchen sagt der Prinz: »Ich finde, daß es an der Zeit ist, mein Dornröschen wachzuküssen.«
Rübezahl droht dem Prinzen Ohrfeigen an. Die Hexe und Gretel sind vom Froschkönig bitter enttäuscht. Weil der Prinz weglaufen will, stellt ihm Rumpelstilzchen ein Bein. Wie die Bösen Feen macht die Hexe Grabschhände. Bevor sie ihn packen, wird der Prinz auf Hänsels Weisung von den restlichen Zwergen mit einer Strähne aus Rapunzels Haar gebunden und neben eine Stroh-, Moosund Blätterpuppe gelegt, die Dornröschen gleichen soll; sogleich küßt er die Puppe. Nun fallen die Zwerge über Schneewittchen her, wollen es ins Gebüsch schleppen.
Die Grimmbrüder sind empört. Gewalttätigkeiten und seelische Grausamkeiten waren ihnen schon immer zuwider. »Ihr solltet euch schämen!« ruft
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