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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Wilhelm. Und Jacob Grimm ruft: »Wollt ihr etwa auch uns hindern zu gehen!?«
Zwar lassen die Sieben Zwerge von Schneewittchen ab, stampfen aber und schütteln die Fäuste. Rübezahl bläst sich zum wütigen Berggeist auf. Die Hexe macht gelbe Augen. Da sagen Hänsel und Gretel: »Laßt die Grimmbrüder laufen.«»Sie werden eine neue und gute Regierung bilden.« Darüber streiten die Märchengestalten, die sich inzwischen alle vor der Pension eingefunden haben. Die Sieben Zwerge agitieren, unterstützt von den Bösen Feen dagegen. Die Guten Feen, der Froschkönig und seine Dame, Frau Holle und schließlich auch König Drosselbart sind dafür. Während sich im Zauberspiegel der Spruchbandaufruf »Die Grimmbrüder an die Macht!« mehrt, zeichnet sich im Knusperhäuschen, dank Votum der Bösen Stiefmutter, eine entsprechende Mehrheit ab. Nur Rumpelstilzchen, das Tapfere Schneiderlein, die Zwerge und die Bösen Feen bleiben ablehnend. Viele sind noch unentschlossen. Die Hände des Mädchens ohne Hände spielen Stein Papier Schere. Die Hexe wirft Knöchlein. Rübezahl bohrt in der Nase. Rotkäppchens Großmutter ruft überm Wörterbuch: »Hier steht geschrieben: abstimmen!« Also stimmt eine klare Mehrheit für »Laufen lassen«. Die Guten und Bösen Feen beraten sich. Schließlich schreiben die drei Guten Feen mit blutenden Fingern die Forderungen der Märchengestalten auf Seerosenblätter: »Gute Luft! Reines Wasser! Gesunde Früchte!« Wie einfach, wie bescheiden liest sich das.
Tänzerisch demonstrieren die Feen ihre Forderungen. Die Grimmbrüder nehmen die Seerosenblätter wie Dokumente an sich und versprechen, eine gute neue Regierung zu bilden. »Fortan sollen die Märchen Mitsprache haben!« ruft Wilhelm.
Von den drei Guten Feen geleitet, verlassen sie die Lichtung um das Knusperhäuschen. Einige Märchengestalten winken ihnen nach. Nachdenklich sind die anderen. Der Froschkönig steigt in den Brunnen. Die Dame legt sich. Der Froschkönig springt auf ihre Stirn, will dann zur kindlichen, zur hexischen Stirn wechseln; aber die Hexe wirft immer noch Knöchlein und Gretel steht finster abseits.
Abermals beginnen die Hände des Mädchens mit sich Stein Papier Schere zu spielen. Der wachküssende Prinz küßt wie von Sinnen die Puppe. Rotkäppchens Großmutter liest dem Wolf Wörter aus vergangener Zeit vor. Alle hoffen, daß dieses Märchen ein gutes Ende nehmen möge.
    »Einspruch! Ich sehe schwarz für den Film. Das Gefälle dieser Geschichte«, ruft er, »ist zu katastrophal. Was soll diese unmotivierte Toleranz! Niemals darf man die Grimmbrüder einfach so laufen lassen.«
Da ist er und spricht dazwischen. Chef will er wieder und Produzent sein. Dabei ist ihm die Polenreise schlecht bekommen. Sie hat ihn altern lassen. Nicht mehr straff, knickbeinig steht er und meidet den Spiegel. Sein grämlicher Blick ist voll innerer Pein. Zwar immer noch maßgeschneidert, schlottert das Zeug an ihm. Was mag unserem Herrn Matzerath unterwegs widerfahren sein?
Kaum hatte er die Rückreise angetreten, begann das Leiden. Als heftiger Harndrang nötigte, alle fünfzig Kilometer, dann in kürzeren Abständen, sobald sich links oder rechts der Chaussee Gebüsch zeigte, angestrengt Wasser zu lassen, hatte unser Herr Matzerath noch vermutet: »Das sind die Aufregungen, das Wiedersehen, der Abschied, sowas schlägt auf die Blase.« Doch als sich der Mercedes am Nachmittag Polens Westgrenze, dem Fluß Oder näherte und das Wasserlassen zur Qual wurde, schmerzte, schließlich, obgleich der Harndrang nicht nachließ, ergebnislos blieb es tröpfelte kaum -, machte sich Bruno nicht nur als Chauffeur Sorgen: »Wir werden, Herr Oskar, sobald wir im Westen sind, in Braunschweig, spätestens in Hannover einen Arzt aufsuchen müssen.«
So weich und bequem er saß, unser Herr Matzerath quälte sich durch die DDR: Schweiß auf der Stirn. Seine Fingerchen trommelten oder faßten die zittrigen Knie. Dieser inständige Drang, diese Furcht, die Hose zu nässen.
Hinzukam, daß der häufige Halt des Mercedes auf freier Strecke, dieser vergeblich erbitterte Versuch, beiseite der Autobahn, kaum vom Gebüsch verdeckt, ein wenig, sei es auch nur ein Likörgläschen voll zu pissen, den Verdacht der Volkspolizei in Gestalt einer Streife erregte, so daß sich, nach angeordnetem Stop, ein Verhör zu peinigend langem Aufenthalt auswuchs: die Verkehrspolizisten wollten nicht begreifen, daß der Insasse eines Mercedes, dem freilich der Mercedesstern fehlte, von

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