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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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ärmer, gewiß noch immer den Rosenkranz hielt. Zu ihren Füßen, dem Winzling Oskar zugeordnet, sah ich getrocknete Linsen gehäufelt. Aber was soll das alles! rief ich. Ist euch, Rättin, der Katholizismus vergangen? Soll etwa nicht mehr dem gekreuzigten Menschensohn eure Andacht gehen? Ist euch die Alte samt Knäblein göttlich, zur Fruchtbarkeitsgöttin geworden? Wo bleibt eure Vernunft?
Ein wenig verlegen kam sie mir vor, als sie wiederum meinen Traum einnahm und mit Sonnenblumenkernen spielte. Antworte, Rättin! rief ich. Sie zischelte halblaut ihr Rattenwelsch, in dem neue, mir ungewohnte, noch unverständliche Laute vorherrschten.
Nichts verstehe ich. Sprich normal!
Die Rättin sagte: Nun ja. Wir behelfen uns. Noch immer den Menschen anhänglich, sprechen wir so unseren Erntedank aus. Vorläufig. Es könnte ja sein, daß noch was kommt. Was anderes. Und zwar vernünftigerweise...
Was denn? rief ich. Etwa die Über-, die Superratte! Neinnein, Herrchen! sagte sie und stellte die Witterhaare steil. Etwas Höheres. Etwas, das nie gewesen ist, doch zu Humanzeiten hätte erdacht werden können. Eine Gestalt, nein, mehrere Gestalten, die über das Rattige, wie es geworden ist, und über das gewesene Menschengeschlecht hinaus...

Lautenmusik hört sie gerne, den Medienreport mit mäßigem Interesse, das Echo des Tages ohne Anteilnahme, Nachrichten gar: sie schläft. Am liebsten hört meine Weihnachtsratte immer noch Schulfunk für alle. Gestern wurde zwischen Steuer, Gebühren und anderen Abgaben unterschieden. Von historischen Lasten, etwa vom Zehnten war in einem Hörbild die Rede: wie die Bauern gepreßt unter Zinsvögten stöhnten, was alles sie liefern mußten und wie ihnen für die Aussaat oft Korn nicht genug blieb. Meine Weihnachtsratte huschte aufgeregt, witterte interessiert.
Heute verbreitete sich der Schulfunk über vergangene und gegenwärtige Produktionsmethoden der Landwirtschaft. Hörspielartig war von Brandrodung, dann von der Dreifelderwirtschaft, von Monokulturen, schließlich vom biodynamisehen Anbau, von Kompost, Brennesselsud und so weiter die Rede. Still, wie in sich gekehrt, saß sie in Richtung Radio, die runden Ohren gespitzt, alle Witterhaare auf Habacht gestellt. Sogar »Der fröhliche Landmann«, als abschließende Musik, gefiel ihr.
Jetzt schweigt das Dritte Programm. Weder sie noch ich wollen hören, nach welchen Gesichtspunkten die Brüsseler Behörden den Milchfluß dämmen oder neue Fangquoten für den Kabeljau bemessen. Daß, nach Angaben der FAO, pro Weltsekunde dreikommafünf bis vier Kinder verhungern, wissen wir schon. Mit meiner Weihnachtsratte bin ich einig; ungeachtet aller beschwörenden Rufe »Es geht aufwärts! Wir dürfen wieder hoffen!« läuft, schlittert, rutscht alles bergab, dem statistisch gewissen Ende zu.
Vielleicht ist es aber auch so: der Schluß war schon. Es gibt uns nicht mehr. Wir leben nur noch als ob, ein Reflex und demnächst abklingendes Gezappel.
Oder wir werden von jemandem geträumt. Gott oder ein ähnlich höheres Wesen, ein Übermotz träumt uns in Fortsetzungen, weil er uns lieb hat oder komisch findet, deshalb nicht von uns lassen kann, unser Gezappel nicht satt kriegt. In seinen Rückblenden, und dank der medialen Gelüste eines göttlichen Prinzips, dauern wir an, obgleich die letzte Vorstellung oder Ultemosch, wie die Rättin sagt, längst stattgefunden hat: Unmerklich vergingen wir, weil sich das Verhalten der Menschen, ihre laufenden Geschäfte, Terminabsprachen und Schuldverschreibungen, ihre liebenswerten Gewohnheiten und schrecklichen Zwänge selbst wenn sie das Ende an einem Sonntag im Juni zufällig bemerkt hätten weder ändern noch lösen, weder absagen noch aufheben ließen; so unveränderlich war oder ist das Menschengeschlecht.
Als ob es uns immer noch gäbe, sagte ich zu meiner Weihnachtsratte: Paß auf! Kurz vor den Mittagsnachrichten bringt das Dritte Programm oft Chormusik, du schätzt doch Motetten. Dann will ich, während du Schütz hörst, hoch ins Gerüst zu Malskat steigen. Er hat gute Arbeit geleistet. Nach über fünfzig Figuren im Langhaus werden demnächst im Hochchor einundzwanzig Heilige in Dreiergruppen stehen und gotische Blicke werfen.
Ich habe mir Gerüstschuhe geliehen. Ich besuche ihn oben, schmeichle, lobe seine kraftvollen Konturen, lache mit ihm über dumme Pfaffen und schwätzende Kunstexperten, will aber, indem ich rede und rede, etwas anderes, ihn überreden, wenn nicht ins Ornament der Kapitelle, dann in

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