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Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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ihr Haar grell,
sie schminken sich schimmelgrün
oder kreideweiß,
um die Angst zu verschrecken.
Uns abhanden gekommen, schreien sie stumm.
    Mein Freund, mit mir älter geworden
wir sehen uns selten, grüßen einander von fern der mit der Flöte, dem die Kadenzen
immer anders gelingen, hat seinen Sohn, der zwanzig zählte, mehrmals beinahe,
nun ganz verloren.
    Söhne, biblisch oder sonstwie versorgte, entlaufen früh.
Niemand will mehr den sterbenden Vater erleben, den Segen abwarten, Schuld auf sich nehmen. Unser Angebot immer billiger rührt nur noch uns. So leben lohnt nicht.
Für diese Strecke nach unserem Maß -
haben sie keine Zeit.
Was wir aushielten, uns witzig ermunternd, soll nicht mehr auszuhalten sein.
Nicht mal ein zorniges Nein wollen sie
gegen unser fleißiges Ja setzen;
knipsen sich einfach aus.
    Ach, lieber Freund, was hat uns
so langlebig zweifeln gelehrt?
Von wann an irrten wir folgerichtig auf Ziele zu? Warum sind wir möglich ganz ohne Sinn?
    Wie ich um meine Söhne bange, um mich; denn auch die Mütter, geübt im Allesverstehen, wissen nicht ein noch aus.
Es treibt, nein, es hält Kurs. Nicht mehr nur ostwärts, trotz Gegenwind, vielmehr dreht das Wrack des ehemaligen Lastenseglers Dora, dann Küstenmotorschiffes Ilsebill, schließlich des Forschungsschiffes Die Neue Ilsebill, auf Höhe der Halbinsel Hela bei, umschifft die Halbinsel, die als Nehrung zum Schluß überspült war, doch nun wächst und die Bucht zum Haff macht, nimmt ins Haff hinein südlichen Kurs und steuert, wenn das von einem Wrack gesagt werden kann, Mole und Hafen der Stadt GdaDsk an, die mit den Türmen der alten Hansestadt Danzig von weither erkennbar geblieben ist und unwiderstehlichen Sog ausübt; wie sonst sollte ich immer wieder und nun auch ein hilfloses Wrack verlockt werden. Halbe Fahrt macht das Wrack. Ich sehe das von meiner Raumkapsel aus, unter der Mal um Mal die Ostsee schimmert. Was mir auf umlaufend vorgeschriebener Bahn unterliegt, etwa das Nildelta oder der Golf von Bengalen oder die Großen und Kleinen Sundainseln, gibt unter Schleiern nichts her, doch sobald ich von Norden aus meiner Bahn folge und sich Schwedens Südküste abzeichnet, liegt mir das Baltische Meer, meine See, als breite sich eine überschaubare Pfütze, klar zu Füßen. Zwar sind Gotland, Bornholm, alle Inseln weg, doch mache ich über Schonen landwirtschaftliche Strukturen, Felderwirtschaft aus.
Ganz nah kann ich das Wrack, wie es nicht mehr treibt, sondern Kurs hält, heranholen; das erlaubt meine Optik. Es ist Sommer. Im Hinterland auch dieser Region melden Sonnenblumenfelder und anderer Feldfruchtanbau beginnende Reife, Leben. Schon bin ich versucht, Erde! zu rufen: Erde kommenAnworten Erde! aber ich weiß, es gibt niemanden mehr, der Roger! ruft und: Ist was, Charly? Nur sie weiß Antwort, unterhält mich mit Neuigkeiten, will mehr wissen als ich ausgucken kann, wittert Sensationen und hört sogar... Horch! rief die Rättin, es tuckert. Hör genau hin: ein Schiffmotor tuckert. Freue dich, Herrchen, deine Ilsebill ist bemannt. Wie sollte der Schiffsmotor sonst. Wenn deine Weiber nicht, irgendwer muß ihn wieder. War ja mehr als kaputt. Und läuft nun und läuft. Der gute alte Diesel. Wie geschmiert, hörst du?!
Nie habe ich sie aufgeregter gesehen. Mal auf dem Holm, dann die Lange Brücke rauf runter, im Werftgelände, ums Hafenbecken lief sie auf Kaimauern, sprang schließlich auf einen Poller, suchte Worte, brachte keinen Satz zu Ende. Herrchen, Lieberchen! rief sie. Sollten etwa. Könnte es sein, daß trotz Kälte, Eis, Finsternis. Und obgleich Staubstürme, dieser verdammte Strahlensegen, den selbst wir kaum. Und dennoch, weil damals? Nicht auszudenken. Einige Exemplare womöglich. Schau nur, wie erwartungsvoll wir. Voller Hoffnung. Aber auch ängstlich...
Nicht nur sie auf dem Anlegepoller; ganze Rattenvölker besetzen die Kaianlagen. Auf allen Kränen, den Slips der Leninwerft, hoch auf den Silos am Schwefelbecken, das sie sonst mieden, auf den ragenden Wandungen des Trockendocks drängten sie dicht bei dicht. Von jedem Punkt, der gute Sicht bot: vom Holm, wo Mottlau und Tote Weichsel zusammenfließen, von beiden Mottlauufern aus. In Neufahrwasser, das früher Novy Port hieß und dessen Wohngebiete bis nach Wrzeszcz unter Schlammwällen liegen, die nun mit Feldfrüchten, Sonnenblumen zumeist, als Grüngürtel den Hafen einschließen, bis zur Mole hin: Ratten, überall Ratten, neugierig, unruhig übereinander geschichtet, zu

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