Die Rättin
werden, gehört die Szene dem wachküssenden Prinzen.) Auf der großen Waldkarte zeigt er, wo die Dornenhecke das schlafende Dornröschen, den schlafenden Kanzler und sein tiefschlafendes Gefolge überwuchert hat.
Sofort bricht Geschäftigkeit aus. »Alarmstufe drei!« »Anordnung an Spezialtruppe!« »Gezielt Dornröschenschlaf aufheben!«
Unterm wuchernden Grünzeug finden sich Telefonapparate. Kommandos werden erteilt. Im Vorgefühl seines Glücks küßt der wachküssende Prinz den einen und anderen Bischof. Dann verschwendet er Luftküsse. (Unser Herr Matzerath sagt ganz richtig: Eine Krankheit ist das. Schlimmer: im Kuß steckt der Tod.)
Nicht dran rühren.
Wehe, es beugt sich wer, wirft Schatten, wird tätig.
Nie wieder soll irgend ein dummer Prinz seine Rolle zu Ende spielen,
auf daß der Koch dem Küchenjungen schallend die Ohrfeige austeilt
und weitere Folgen zwangsläufig.
Ein einziger Kuß hebt auf. Danach geht alles, was schlief, schrecklicher als zuvor
weiter, als sei nichts geschehn.
Aber Dornröschenschlaf hält
immer noch alle gefangen,
die freigelassen zum Fürchten wären. Im Dritten Programm, wie in allen anderen Rundfunkprogrammen, wurden heute wiederholt Alarmübungen für den Ernstfall angesagt. Akzentuiertes Sirenengeheul soll unterschiedliche Bedeutung haben. Aufund abschwellendes Heulen, Geheul als Dauerton und so weiter. Das muß gelernt werden. Deshalb der Aufruf an alle, die Rundfunkgeräte zu bestimmter Zeit anzuschalten und wichtige Durchsagen zu hören. Es gilt, diese Durchsagen zu befolgen. Wer aus Zeiten des letzten Krieges Warnung und Entwarnung noch immer im Ohr hat, bleibt gefordert, seine Ängste aufzufrischen.
Später hörten meine Weihnachtsratte und ich bedeutungsvolles Sirenengeheul. Die Werft nahbei ist friedensmäßig und für den Ernstfall gerüstet. Wir unterschieden die Vorwarnung, den Luftalarm, die Entwarnung. Es klappte wie angekündigt. Nun wissen wir.
Merkwürdigerweise ging vom abgestuften Geheul ein Sicherheit verbürgendes Fürsorgegefühl aus. Wir werden nicht überrascht sein.
Danach hörten wir Schulfunk: etwas über Verkehrserziehung, dann Pädagogisches über den Umgang mit Schwererziehbaren, dann People talking. Zu Beginn der Nachrichten hieß es, das Scheitern des Gipfels in Brüssel sei als nur vorläufiges Scheitern zu werten; gegen Nachrichtenende kam eine Erfolgsmeldung: in Uppsala, Schweden, sei es gelungen, aus ägyptischen Mumien zweitausendvierhundert Jahre altes Erbmaterial, uralte Gene zu isolieren und in Gewebekulturen zu vervielfältigen: ein Fortschritt.
Meine Weihnachtsratte und ich stimmen überein: Diese Nachrichten tun so als ob. Zwar läuft noch alles, doch nichts geht mehr. Im Dritten Programm, ob in Brüssel oder Uppsala: Die Luft ist raus. Das sind Reflexe nur noch, Vertagungen, Mumienschändung! Doch während ich die Brüsseler Spesenritter und die schwedischen Erbschleicher verfluche Stell Dir vor, die übertragen jetzt mumifizierte Informationen in taufrische Frischzellen! -, kugelt sich mein Rättlein verschlafen, als lohne aus Rattensicht kein Aufmerken der Witterhaare.
Also erzähle ich ihr, was ich neulich in Hameln erfuhr, als ich abseits vom Festspielprogramm die Krypta der Bonifatiuskirche besuchte.
Ich weiß es jetzt besser, Ratte. Das war nach den Kinderkreuzzügen und gut sechzig Jahre, bevor die Pest kam. Damals waren die Leute ziemlich durcheinander. Niemand wußte, was richtig war. Viele Jahre lang hatte es keinen Kaiser, nur Mord und Totschlag gegeben. Jeder machte, was er wollte und nahm, was er nicht hatte. Und überall war Angst zu haben. Angst vor dem Kommenden. Allerweltsangst. In jede Richtung zogen junge Leute übers Land und durch die Städte, im Westen rheinaufwärts. Sie tanzten wie gestochen und geißelten sich bis aufs Blut. Ihre Lieder, dieses Geißlergeheul, machten den Juden Angst, denn die Geißler schlugen, von Ängsten getrieben, die Juden tot.
Doch andere junge Leute, die vernünftiger waren und weniger ängstlich, wanderten in Richtung Osten, nach Mähren und Polen bis in die Kaschubei und ins Vineterland, wo sie an den Ufern der Ostsee siedelten. In Hameln sollen es hundertunddreißig Burschen und Mädchen gewesen sein, die am Johannestag, der auf den 26. Juni des Jahres 1284 datiert ist, einem Werber folgten, von dem es hieß, er habe wunderschön Flöte geblasen.
Glaub mir, Ratte, von euch ist in keiner Chronik die Rede. Nie haben Forscher dem Flötisten als Nebenbeschäftigung Rattenfängerei
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