Die Rättin
nachweisen können. Und selbst der Denker Leibniz hat nur gerätselt und was allzu nahe lag einen verspäteten Kinderkreuzzug vermutet. Feststeht: die Ratten wurden dazugedichtet, weil man sich sagte, wer unsere Kinder und sei es zum vernünftigen Auswandern verführt, der ist ein Rattenfänger; wer Ratten fängt, der fängt und verführt auch Kinder.
Ich aber glaube, seitdem ich in der Krypta des Münsters Sankt Bonifatius saß, daß die Geschichte ganz anders verlief. Es hat nämlich in Hameln schon immer viele Mühlen und Speicher, also auch Ratten gegeben. Natürlich mochten Leute, die vom Getreidehandel lebten, die Ratten nicht. Jedem Wassermüller, Kornhändler und einschlägigen Zunftmeister waren sie nichts als Plage. Deren Kinder jedoch begannen, weil die Zeit so verrückt war, mit Ratten zu spielen. Womöglich wollten sie ihre Eltern ärgern, indem sie Ratten fütterten und öffentlich an sich trugen, wie es unartigen Kindern gegenwärtig zu tun gefällt. Und wie die Punks oder Punker heute, trugen damals die Hämelschen Kinder ihre Lieblingsratten auf der Schulter, ins Haar gebettet und unterm Hemd. Aus Taschen und Beuteln guckten Rättlein hervor.
Das brachte Ärger, Familienstreit. Durch Ratsbeschluß wurde verboten, mit Ratten zu spielen, sie zu füttern oder gar an sich zu tragen. Einige Kinder und Jugendliche fürchteten Strafe, gaben nach, wurden brav. Aber gut hundertunddreißig Hämelsche Kinder steckten nicht auf. Sie trotzten dem Verbot, rotteten sich mit ihren Ratten und machten Umzüge die Bäckerstraße rauf runter, die Münsterkirchstraße lang zum Weserfluß, an den Wassermühlen vorbei durchs Wendenviertel zum Markt und Rathaus, das sie für Stunden besetzten und lästerlich Ratzenhaus nannten. Sogar zur Messe und zur Vesperandacht nahmen sie ihre Ratten in die Bonifatiuskirche mit und waren, wie man von Amts wegen sagte, ganz und gar rattenverrückt. Zwar wurde das eine und andere Kind auf offenem Markt gepeitscht und an den Pranger gestellt, doch weil die Kinder der angesehensten Bürger, sogar der Ratsherren Söhne und Töchter so rattennärrisch und unbelehrbar zu den Hundertunddreißig gehörten, konnten sich die Schöffen nicht zu peinlichen Strafen, zum Strecken etwa, zum Kneifen und Glühen entschließen.
Als aber von Satansmessen und rättischem Kult gemunkelt wurde, wobei immer wieder die Krypta des Münsters ins Gerede geriet; als sich die Hundertdreißig nach Rattenart zu kleiden begannen und am hellen Tag, mit nackten Schwänzen behängt, die Brotund Fleischbänke plünderten und immer wilder ihren Ratten gleich wurden, murrten die Gerber und Sackträger gegen das schonungsvolle Gewährenlassen. Auf Zunftbänken wurde aufsässig geredet. Dominikaner eiferten von Kanzeln herab wider das menschliche Rattengezücht. Endlich, nun unter pfäffischem Druck, wohl auch aus Furcht vor aufständischen Gewerken, beschlossen Rat und Schöffen in geheimer Sitzung peinlichste Gegenmaßnahmen. Ein in der Stadt unbekannter Pfeifer, der mit Flöten und der Sackpfeife aufzuspielen verstand, wurde gegen Handgeld von auswärts angeworben, auf daß er sich bei den vertierten Kindern beliebt mache, um sie alle eines Tages es war auf Johanni mit Flötentönen, als wolle man einen lustigen Ausflug machen, durchs Ostentor zum nahen Kalvarienberg zu führen, in dessen tiefster Höhle der Pfeifer mit den hundertunddreißig Hämelschen Kindern und ihren Streichelratten ein Fest zu feiern begann. Da wurden Schweinswürste gebraten und Gerstenbier getrunken. Beim Tanz reihum sollen die Ratten mitgetanzt haben. Und höllischer Gesang wurde laut. Als aber das Fest am lustigsten war und vom Gerstenbier Müdigkeit über die Kinder kam, schlich sich der Pfeifer aus der Höhle, worauf deren Eingang, wie eine Stalltür so groß, vom Stadtbüttel versperrt, von zünftigen Maurern zugemauert, schließlich von Bauern mit Sandfuhren verschüttet und von den Pfaffen gnadenlos mit Weihwasser besprengt wurde. Es soll nur wenig Geschrei aus der Höhle gefunden haben. Von einer einzigen Ratte, die entkam, wußten später umlaufende Gerüchte. Viel Jammer um die verschütt gegangenen Kinder. Doch hat man den Pfeifer mit klingendem Silber bezahlt. Und auch die Stadt war bald um eine Legende reicher. Vieldeutig stand das Wort »Auszug« datiert in der Chronik vermerkt. Seitdem ist von Hameln die Rede: falsch und verlogen. Das rächt sich, Ratte, das rächt sich bestimmt...
Mehr und mehr ängstigen sich die Kinder. Sie färben
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