Die Rättin
Kaisers Zeiten bis nach Japan gekommen, wo er mit Stäbchen zu essen lernte. Einer seiner Enkel hat es in Hongkong zu Familie und Wohlstand gebracht. Nach fünfundvierzig haben, neben Annas Enkelsohn Oskar, der im Rheinland ansässig wurde, mehrere Enkelkinder ihrer verstorbenen Schwestern Amanda, Hulda und Lisbeth in Schwaben und im Ruhrgebiet Fuß gefaßt, weil es, so sagte man damals nicht nur an kaschubischen Tischen, im Osten zwar schöner, im Westen aber besser sei.
Aus Annas mütterlicher Linie Kurbiella, die aber immer wieder, wie aus Kirchenbüchern in Kartuzy, Matarnia und Wejherowo zu lesen ist, mit den Linien Woyke, Stomma, Kuczorra und angeheiratet Lemke und Stobbe lebenslängliche Knoten schlug, ist ein Kurbiella zur Handelsmarine gegangen, doch ab Mitte der fünfziger Jahre in Schweden geblieben. Dort beschloß er, nach Afrika auszuwandern: Seine Postkarten, die Palmenstrände und exotische Früchte zeigen, kommen aus Mombasa, wo er im Hotelgewerbe tätig ist.
So betont alle ausgewanderten Kaschuben sich als US-Bürger, Angehörige des Commonwealth und überbetont als Westdeutsche geben, es hängt ihnen dennoch das Kaschubische, dieser Geruch von Buttermilch und eingekochtem Rübensirup an; auch unser Herr Matzerath, der sich gerne weltmännisch und vielgereist gibt, riecht unterm Kölnisch Wasser anheimelnd nach Stall.
Als Anna Koljaiczek ihren hundertundsiebten Geburtstag mit einladenden Postkarten ausrief, wurde sie in allen fünf Kontinenten, übrigens auch in Montevideo gehört, wo ein Urenkel des untergetauchten Josef Koljaiczek, wie alle Colchics, Handel mit Bauholz und Edelhölzern treibt. Überdies sollen auch Colchics im brasilianischen Urwald beim Kahlschlag und auf Island als Eigner einer Kistenfabrik tätig sein.
Es reist also nicht nur über Poznan und Bydgoszcz, das früher Bromberg hieß, unser Herr Matzerath an; während ein Woyke mit Frau, der nun abenteuerlich Viking heißt und bei der Eisenbahn tätig ist, von Australien her seinen Schiffsweg nimmt, kommt aus der Vielzahl ein einziger Mister Colchic, der eine Stomma geheiratet hat, mit Gattin vom Michigansee her geflogen.
Von Hongkong fliegt über Frankfurt am Main nach Warschau das Ehepaar Bruns, vormals Bronski, das aus der britischen Kronkolonie billig Spielzeug exportiert und nun bänglich gespannt ist, wie sich Mrs. Bruns bei deutlich chinesischer Herkunft zwischen Kaschuben zurechtfinden wird.
Leider hat der Edelholzhändler aus Montevideo absagen müssen; aber jener ehemalige Matrose, der über Schweden nach Afrika fand, kommt und heißt als Hotelmanager noch immer Kurbiella.
Obgleich die Enkelkinder von Annas verstorbenen Schwestern Amanda, Hulda und Lisbeth der Kaschubei zunächst wohnen, haben nur Herr und Frau Stomma, sie eine geborene Pipka, zugesagt, mit zwei halbwüchsigen Kindern zu kommen. Von Gelsenkirchen, wo ihr Fahrradgeschäft mit Reparaturwerkstatt und Filiale in Wanne-Eickel überdies einen Geschäftsführer ernährt, reisen die Stommas per Eisenbahn an. Vergeblich hat unser Herr Matzerath versucht, seinen mutmaßlichen Sohn Kurt und dessen Mutter, die, wie man weiß, eine geborene Truczinski ist, zur Mitreise im Mercedes zu bewegen; doch Maria hielt sich für unabkömmlich. Nach ihres Mannes Tod kurz vor Kriegsende, der, wie Oskar heute meint, vermeidbar gewesen wäre, blieb sie unverheiratet und geschäftstüchtig.
»Neinnein! Dahin will ich nicht zurück mehr!« soll sie gerufen haben. Und Streit gab es deshalb, in dessen Verlauf Vaterschaften bezweifelt wurden; doch dieses leidige Thema hier auszubreiten, würde zu weit führen. Es blieb bei Maria Matzeraths Absage: Sie könne ihre Ladenkette nicht einfach im Stich lassen.
Als ich ihn kurz vor seiner Abreise wie nebenbei fragte: »Sagen Sie, Oskar, wer von den weltweit zerstreuten und seßhaften Kaschuben ist Ihnen persönlich bekannt?«, sagte er: »Eine gewisse Scheu hinderte mich bisher, reisend meiner Vergangenheit nachzugehen. Zwar gab es etliche Korrespondenz, doch außer auf Fotos besonders die Colchics haben fleißig fotografiert wurde nichts anschaulich. Nun hoffe ich, wenn schon nicht meinen Onkel Jan, der meiner armen Mama so schmerzlich vertraut war, so doch dessen Sohn wiederzusehen: Stephan ist nur zwei Monate älter als ich.«
Nach einer Pause, die er nutzte, um an seinen Fingerringen zu drehen, sagte er: »Nunja, Tiefschürfendes wird man sich nicht zu sagen haben. Sie kennen doch diese Familienauftriebe. Viel Gedränge und wenig Nähe. Mir
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