Die Rättin
nicht leicht. Es hieß: Typisch! Nur Männer denken sich sowas aus. Harmoniesüchtig ist er. Soll wohl ne Friedensfahrt werden!
Tricks und Notlügen mußte ich mir einfallen lassen und kurz vor Reisebeginn versprechen, daß nie Sturm aufkommen werde und niemals Maschinenschaden auf hoher See zu befürchten sei.
Dennoch sind mir Bedingungen gestellt: Kein Grübchen darf ich zählen, kein Muttermal entdecken, quer oder steil keine einzige Falte deuten. Keine der Frauen will ähnlich sein. Sie weigern sich auszusehen, wie ich sie spiegeln möchte. Deshalb ist mir verboten, Profile zu zeichnen, diese Stirn zu wölben, die andere kurz sein zu lassen und Schnittmuster ihrer Augen zu fertigen. Sobald ich sie sprechen oder schweigen lasse, müssen der sprechende und der schweigende Mund ausgespart bleiben. Wie beredte oder verschlossene Lippen sich öffnen, einander treffen, pressen, befeuchten, kann nicht gesagt werden. Ob Backenknochen breit, ein Kinn zierlich, ein anderes voll und ausladend, Ohrläppchen hier freihängen, dort angewachsen sind, soll nicht typisch sein. Keinem Geruch denn jede riecht anders ist es erlaubt, sich Eigenschaftswörter zu suchen. Und nie darf Farbe vorkommen; sie wäre Verrat. Deshalb ist keine der Frauen an Bord blau-, grauoder rehäugig. Von dunkelbraunem, semmelblondem, tiefschwarzem und weizenfarbenem Haar kann nicht die Rede sein. Nur daß Damroka schöngelockt ist, soll hier stehenbleiben. Und soviel noch: aller fünf Frauen Haar ist mehr oder weniger graudurchmischt. Sie sind mir älter und älter geworden, zählen von Mitte vierzig bis weit über siebzig, obgleich sich besonders gerne die Alte immer noch mädchenhaft gibt.
Die vielen abgelebten Jahre. Wenn ich das sagen darf: Sie wurden mit der Zeit schöner. Da sie von Anbeginn so hieß esgut aussahen, konnte es ihnen älter werdend gelingen, ihre früher zu offenkundige Schönheit hinter Schleier zu stellen. So ist es: es sind fünf verschleierte Schönheiten, die nach Vineta wollen. Ihre Geschichten sogar, die alle von vergangenen Männern handeln, sind verschleierte Geschichten; denn nie dürfte ich sagen, wie ich ihnen fremd geworden, abhandengekommen, nie greifbar gewesen, hungrig oder zufällig unterlaufen bin. Auch wer hier wen verletzt, benutzt, überhört, vermißt, im Regen stehengelassen hat, kann nicht Ballast sein für ein Schiff, das bald denn schon steuert »Die Neue Ilsebill« den Hafen von Visby auf Gotland an unterwegs sein wird, die versunkene Stadt zu suchen.
»Mann!« ruft die Maschinistin Helga und schlenkert mit Armen und Beinen, »Ist mir nach Landgang!«
Die Meereskundlerin Vera sagt: »Ich leg einen neuen Film ein in. In Visby soll es interessante Trümmer geben. Alles echt Mittelalter.«
Die Alte, die so oder so Erna gerufen wird, zählt auf, was eingekauft werden muß: »Und unbedingt brauchen wir Flüssiges, paar Flaschen Aquavit. Wer weiß, was es in eurem Unterwasserreich gibt?!«
Die Steuermännin, von der ich sagte, sie heiße Martha, will an Land unbedingt etwas erleben. »Ich glaub«, sagt sie voraus,
»ich reiß mir noch schnell einen Mann auf, zum Abgewöhnen.«
Damroka, die ich heimlich schon immer Damroka gerufen habe, will nach dem Anlegen sofort zum Hafenmeister und die gestempelten Papiere abholen. Sie sagt: »Wenn wir nach Steuerbord hin Mönchgut liegen haben und dem DDR-Grenzschutz, sobald die mit ihrem Boot längsseit kommen, unsere tipptopp Papiere zeigen, kann uns so gut wie nichts mehr passieren.«
Ich halte mich raus. Ich sage nicht, was ich weiß. Daß es zu spät sein könnte, bleibt ungesagt. Ach, stünde den Frauen Vineta doch offen!
Die Rättin datiert uns nach eigener Zählung. Alles, was vor ihrem Auftritt in Europa geschah und nach unserer Rechnung ziemlich genau aufs Datum gebracht wurde, faßt sie mit der Formel, das war zur Zeit der Schwarzen Hausratte, zusammen. Ihre Herkunft bleibt dunkel. Eher Legenden schaffend als aufklärend sagt sie: Wir lebten lange am Kaspischen Meer, bis wir uns eines Tages entschlossen, schwimmend den Fluß Wolga zu überqueren und zu wandern, was uns als Wanderratten bekanntgemacht hat.
Da ihre Ankunft in Europa aus den Hafenstädten des Kontineues und der Britischen Inseln übereinstimmend während der fünfziger Jahre des achtzehnten Jahrhunderts gemeldet wurde, verlief die Völkerwanderung und verbreitete sich die Pest, wie die Rättin sagt, zur Zeit der Schwarzen Hausratte.
Desgleichen sind alle Ratten, die während des Dreißigjährigen
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