Die Rättin
Viele siechten, andere blieben unfähig, gesunden Nachwuchs zu werfen. Immer wieder mußten mißgestaltete Würfe verbissen werden. Nur langsam gelang uns die Umstellung auf posthumane Verhältnisse. Nein, immer noch leiden wir unter Spätschäden...
Doch zum Glück, rief die Rättin, paßten sich jene Sippen den Staubstürmen und deren strahlender Mitgift an, die sich während der auslaufenden Humanzeit in Kernkraftwerken und Atommüllzwischenlagern angesiedelt und resistent gemacht hatten. Ihnen gelang es, die ersten gesunden Würfe durchzubringen. Doch heißt gesund nicht unverändert: Unser vormals graubraunes Fell ist seitdem grün, als hätten wir jene Farbe retten wollen, die mit den Menschen wie ausgelöscht war. Und nicht nur wir sind verändert. Die Spatzen und Tauben sind weiß und scharlachrot gefiedert. Frösche und Lurche geraten viel größer, sind aber durchsichtig fast. Zwar ähneln die Fische in Wasserlöchern herkömmlichen Plötzen, Karpfen und Hechten, doch sind auch sie im Kiemenund Seitenflossenbereich verändert, als wollten dort Glieder, demnächst tauglich für Landgang wachsen. Ach ja! Auch das noch: die Schmeißfliegen werfen lebendige Junge und säugen, stell dir vor, säugen wie wir. Flugschnecken gibt es und Spinnen, die unter Wasser ihr Netz spannen. Die Rußwürmer leben, nützlich durchaus, vom abgelagerten Ruß, sind aber ungenießbar sogar für unsereins...
Ich rief: Das hast du gelesen, Rättin! In Schmökern irgendwo aufgeschnappt. Diese triviale Science-fiction-Menagerie! Malskatsche Fabelwesen oder Breughelsche Ausgeburten. Der übliche Mutationsschwindel!
Ruhig, als wäre mein Einwurf schon lange fällig gewesen, sagte sie: Hör zu, Alterchen. Du mußt nicht glauben, was du nicht hören willst. Doch zeigen wir dir gerne bei Gelegenheit einige landgängige Fische, sirrende Flugschnecken und säugende Fliegen. Du wirst dich noch wundern.
Mich reizten ihre vertraulichen Anreden -Paps, guter alter Paps, sagte sie-, doch blieb sie Rättin, trotz meiner hämischen Auslassungen über, wie ich sagte, leserattigen Phantasien, gelassen bei ihrem Bericht: Jedenfalls siedeln wir seitdem wieder auf der Erdoberfläche. Nur unsere Vorräte blieben untertage gelagert. Oben gab es vorerst nur wenig zu beißen, und das Wenige war durch Schadstoffe verdorben. Wir mußten Warnsysteme entwickeln und von den Vorräten zehren, bis wir annähernd immun waren und vom Vorgefundenen satt werden konnten. Davon gab es in unserer Region, die einmal deine gewesen ist, reichlich; denn was der Mensch an Gebäuden, ob Wohnsilo oder Kaserne, Reihenhaus oder Fabrikanlage, Kirche oder Theater errichtet hatte, das blieb in seinen Mauern bestehen und bot, in Kellern und Lagerhallen was unserer Aufzucht notwendig war. Wir lebten gar nicht so schlecht während der Übergangszeit und erinnern uns gerne an die Konservenlager der polnischen Miliz. Weißblechdosen machten uns keine Mühe. Hauptsächlich fanden wir gekümmelten Schweinekohl, Kochwürste und Gulasch konserviert. Außerdem waren Schmalzfleisch und Kuttelfleck in Büchsen und Eimern vorrätig. Auch fand sich, mit Graupen eingekocht, Gänseklein. Dieses für den staatlichen Selbstschutz angelegte Großlager machten wir im Vorort Langfuhr auf, auf Hochstrieß, wo vor langer Zeit ein kronprinzliches Leibhusarenregiment, und zum Schluß die Miliz kaserniert war. In Danzig fanden wir viele Konsumlager und die Lagerräume der Leninwerft-Kantine mit Dosenvorräten gut versorgt. Doch sonst kam uns die menschenfreie Stadt in ihren Speisekammern und Kühlschränken nur dürftig ausgestattet vor. Wir mußten suchen und suchen und wurden städtisch dabei.
Du siehst, sagte die Rättin, unsere Lage war akzeptabel. Da die Schonbomben nach ihrer Art und Absicht nur alles Leben vernichtet hatten, stand im Zentrum und im Hafen nicht nur jedes Gebäude in seiner Substanz erhalten, es blieben auch Fahrzeuge und Geräte heil. Es fehlten der alten, immer wieder von Menschenhand zerstörten, danach kostspielig aufgebauten Stadt kein Turm und kein Giebel. Sankt Marien gluckte wie eh und je. Nach wie vor hob der elegante Rathausturm irgendeinen unterm Ruß vergoldeten König himmelwärts. Einander mit Fassadenschmuck überbietend, reihten sich die Häuser der Langgasse, Frauengasse, Hunde-, Jopenund Brotbänkengasse. Offen und schöngerundet die alten Stadttore, prächtig das Grüne Tor, wenn auch wie jedes Gemäuer verrußt. Überall Treppen und steingehauene Beischläge. Mit
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