Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Rättin

Die Rättin

Titel: Die Rättin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
Vom Netzwerk:
Grazie und Muskelspiel erinnerte der bronzene, einen Dreizack schwingende Neptun vor dem Artushof, wo er unverrückt immer noch steht, an das vergangene Menschengeschlecht.
Verdammt! Sie wurde mir glaubwürdig. Ortskundig sprach sie. Sie wußte, daß man von der Wollwebergasse ins Zeughaus und an der Großen Mühle vorbei zum Orbis-Hotel Hevelius kommt. Sogar die Speicherinsel links rechts der Milchkannengasse und die Niederstadt kannte sie: Langgarten hoch bis nach Kneipab; doch sei dieser Stadtteil, sagte sie unter Bedauern, gänzlich verschlammt, wie überhaupt Schlammlawinen von allen Seiten, bis vor den Giebel der Trinitatiskirche, bis vors Olivaer Tor die Stadt eingeschlossen hätten. Genau bezeichnet sie die Lage der Vororte Ohra und Schidlitz. Auch als sie von einem D-Zug erzählte, der abfahrbereit nach Warschau auf Gleis drei gestanden hätte, plazierte sie den Hauptbahnhof richtig; und das Arbeiterdenkmal vor dem Portal zur Leninwerft war ihr wie das Werftgelände gleichfalls bekannt. Ich war versucht, ihr zu glauben, als sie behauptete, die Ratten hatten auf den Hellingen, im Trockendock und an den Kaianlagen Schiffe im Rohbau, Schiffe in Reparatur und mit Stahltrossen festgemachte Schiffe verschiedener Herkunft und Tonnage vorgefunden. Natürlich alle menschenfrei. Sie sagte: Die Mopeds und Fahrräder der entsafteten Hafenund Werftarbeiter behielten ihr Aussehen.
Heh Ratte! rief ich. Und was, verdammt, habt ihr mit den Entsafteten getan? Die müssen doch überall rumgelegen haben geschrumpft, wie du sagst.
Freund! ermahnte die Rättin mich: Etwas mehr Anteilnahme! Du sprichst von Menschen, von deinesgleichen.
Ja, wir fanden sie überall. In Häusern, Gassen und Kirchen, auf dem Heumarkt, dem Kohlenmarkt, die Lange Brücke hoch, in Straßenbahnen, Vorortzügen, im D-Zug, der nach Warschau wollte. Ausgedörrte Kadaver, ledern und rußschwarz seit der finsteren Zeit der Staubstürme. Sie lagen, hockten, kauerten, waren miteinander verknotet, als wäre ihnen zum Schluß unser gelegentlich verklebter Wurf, Rattenkönig genannt, Vorbild geworden. In den Kajüten der Schiffe, auf jedem Schiffsdeck, längs den Kaianlagen, in der Kantine der Leninwerft, überall hatte es den Menschen das Blut, den Rotz, alles Wasser, die letzten Säfte entzogen. Auf Zwergenmaß zusammengeschnurrt waren sie uns leichtgewichtig, als wir sie wegräumten. Viele klammerten sich Touristen offenbar an ihre Kamera. Und dennoch glaub uns! war der Mensch in seinen Resten schön. Alle Glieder zu wilder Gestik verrenkt, grimassierend und schön. Ums Lippenrot und um den Augenglanz, ums scheue Lächeln, um seine sanfte oder herrische Stimme, ums geschickte Fingerspiel und den aufrechten Gang gebracht, blieb der Mensch schön. Auch konnte jener schwarze schmierige Belag, der auf allen lag, und den wir geduldig vorsichtig lösten, seine Schönheit nicht mindern. Wir wollten uns lange nicht trennen von jenen anschaulichen Resten einstiger Herrlichkeit. Doch nicht nur Hunger zwang uns, die Entsafteten wegzuräumen; die posthumane Zeit sollte ganz und gar uns, dem überlebenden Rattengeschlecht gehören.
Mir war, als hätte die Rättin, von der mir träumt, mich bei der Hand genommen. Fern meiner Raumkapsel führte sie mich durch leere Gassen, durch die menschenfreie Stadt. Ich warf keinen Schatten, doch meine Schritte hörte ich. So verrußt alles Mauerwerk war, es hatten sich an den Stadttoren die alten Inschriften dennoch gehalten. In runden lateinischen Buchstaben, auf Deutsch und auf Polnisch auch, erzählten sie von Danzig und GdaDsk. Was ich nicht entziffern konnte, buchstabierte die Rättin. Am Langgasser Tor stand noch immer jener Wahlspruch der einst reichen, wie versessen handeltreibenden Stadt, der während Jahrhunderten im Leitwort der städtischen Willkür zitiert worden war und nun den Ratten galt: Nec temere, nec timide. Das wollen wir sein, sagte die Rättin: weder zu waghalsig noch allzu zaghaft. Ach, Freund, wie prächtig deine Stadt ist und uns wohnlich zugleich!
Was ich sah, führte Beweis, daß jede Fassade zwar geschwärzt und entglast, aber bis in den letzten Schnörkel heilgeblieben war. Gewiß, eine düstere Kulisse, aber doch kenntlich. Gleichmäßig beschichtet zeichneten sich Gesimse, Giebelverzierungen, Beischläge und Figurationen der eingelassenen Reliefs schärfer als vormals ab. Wie überraschend noch immer der Blick von der Langgasse durch die schmale Beutlergasse auf den überragenden Turm der Marienkirche. Ob

Weitere Kostenlose Bücher