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Die Räuberbraut

Die Räuberbraut

Titel: Die Räuberbraut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaret Atwood
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dieser anonymen Appartements. Ein paar andere, blasiertere Studentinnen gaben der McClung Hall den Spitznamen McFungus Hall, ein Name, der sich durch die Jahre gehalten hat, aber für Tony war das Haus ein Zufluchtsort, und sie bleibt ihm dankbar.
    Ihr Büro liegt im ersten Stock, nur ein paar Türen von ihrem alten Zimmer entfernt, das inzwischen zur Kaffeeküche umfunktioniert wurde, ein absichtlich freudlos gehaltener Raum mit einem verkratzten Preßspantisch, mehreren nicht zusammenpassenden Stühlen und einem vergilbten Amnesty-Poster von einem Mann, der mit Stacheldraht umwickelt ist und in den zahllose krumme Nägel hineingesteckt wurden. Es gibt eine Kaffeemaschine, die spuckt und tröpfelt, und ein Regal, auf dem alle ihre umweltfreundlichen, abwaschbaren Kaffeebecher aufbewahren sollen, die sie mit ihren Initialen versehen sollen, damit sie sich nicht gegenseitig mit Zahnfleischkrankheiten anstecken. Tony hat sich mit ihrem Becher einige Mühe gegeben. Sie hat roten Nagellack genommen und auf den schwarzen Untergrund geschrieben: Netobrev neterteb! Gelegentlich benutzen Leute fremde Becher, aus Versehen oder aus Faulheit, aber niemand benutzt ihren.
    Sie wirft einen kurzen Blick in die Kaffeeküche, in der zwei ihrer Kollegen, beide in flauschigen Jogginganzügen, bei einem Glas Milch und Keksen zusammensitzen. Dr. Ackroyd, Experte für Landwirtschaft des achtzehnten Jahrhunderts, und Dr. Rose Pimlott, Sozialgeschichtlerin und Kanadistin, die auch unter jedem anderen Namen eine unausstehliche Gans wäre. Tony fragt sich, ob Rose Pimlott und Bob Ackroyd ein Ding zu laufen haben, wie Roz sagen würde. In den letzten Wochen haben sie ziemlich oft die Köpfe zusammengesteckt. Aber wahrscheinlich handelt es sich nur um irgendeine Palastintrige. Die ganze Fakultät ist wie ein Königshof zu Zeiten der Renaissance: Getuschel, Zusammenrottungen, Heimtücke, Neid und Mißgunst. Tony versucht, sich aus allem herauszuhalten, was ihr jedoch nicht immer gelingt. Sie hat keine besonderen Verbündeten und wird aus diesem Grund von allen mit Mißtrauen beobachtet.
    Vor allem von Rose. Tony ist immer noch empört darüber, daß Rose einen ihrer Graduiertenkurse des letzten Jahres als eurozentrisch bezeichnet hat.
    »Natürlich ist er eurozentrisch!« hatte Tony gesagt. »Was erwarten Sie denn von einem Kurs namens ›Die Belagerungsstrategien der Merowinger‹?«
    »Ich finde«, sagte Rose Pimlott in dem Versuch, ihre Position zu retten, »daß Sie den Kurs vom Standpunkt der Opfer aus halten sollten. Statt sie zu marginalisieren.«
    »Welcher Opfer?« sagte Tony. »Sie waren alle Opfer! Sie haben sich abgewechselt! Genauer gesagt haben sie sich in dem Versuch abgewechselt, zu verhindern, zu Opfern zu werden. Das ist nun mal der springende Punkt von Kriegen!«
    Was Dr. Rose Pimlott über Kriege weiß, würde in einen Fingerhut passen. Aber ihre Ignoranz ist gewollt: in erster Linie will sie, daß Kriege ihr aus dem Weg gehen und aufhören, so ein Ärgernis zu sein. »Wie kommt es eigentlich, daß Sie Kriege so lieben ?« sagte sie erst kürzlich zu Tony und rümpfte dabei die Nase, als spräche sie über Rotze oder Fürze: etwas Unbedeutendes und Ekliges, das man am besten verborgen hält.
    »Fragen Sie einen Aids-Forscher, wieso er Aids liebt?« fragte Tony zurück. »Kriege sind nun einmal da. Sie werden nicht so schnell verschwinden. Es geht nicht darum, ob ich sie liebe oder nicht. Ich will einfach nur wissen, wieso so viele andere Leute sie lieben. Ich will sehen, wie sie funktionieren.« Aber Rose Pimlott zieht es vor, nicht zu sehen, sie zieht es vor, es anderen zu überlassen, die Massengräber auszugraben. Sie könnte sich dabei einen Fingernagel abbrechen.
    Tony überlegt, ob sie Rose erzählen soll, daß Laura Secord, deren Porträt auf den alten Pralinenschachteln, die ihren Namen trugen, sich unter Röntgenstrahlen als das eines Mannes in einem Kleid herausstellte, tatsächlich ein Mann in einem Kleid war. Keine Frau, würde sie zu Rose sagen, hätte derart aggressiv sein können, oder -  wenn man so wollte – derart mutig. Das würde Rose in die Zwickmühle bringen! Sie würde sich entweder auf den Standpunkt stellen müssen, daß Frauen, was Kriege angeht, genauso gut sein können wie Männer, und von daher genauso schlecht, oder aber, daß alle Frauen von Natur aus zartbesaitete Zimperliesen sind. Tony wüßte wirklich gern, wie Rose sich da herauswinden würde. Aber heute hat sie dafür keine

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