Die Räuberbraut
geschützt, akustische Blutbäder. Als sie das Haus kaufte, damals, als das Viertel noch schäbiger und die Preise niedrig waren, rechnete sie nicht damit, daß je jemand darin wohnen würde, außer ihr.
Sie geht die Treppe zur U-Bahn hinunter, steckt ihre Marke in das Drehkreuz, besteigt den Zug und setzt sich auf den Plastiksitz, die Tragetasche auf den Knien wie eine Diakonieschwester auf dem Weg zu einem Hausbesuch. Der Wagen ist nicht voll, so daß keine Köpfe großer Leute ihr die Sicht versperren und sie die Anzeigen lesen kann. Repsunk , sagt ein Schokoriegel. Eis nefleh ettib, fleht das Rote Kreuz. Tobegnarednos! Tobegnarednos! Wenn sie diese Worte laut ausspräche, würden die Leute denken, es sei eine andere Sprache. Es ist eine andere Sprache, eine archaische Sprache, eine Sprache, die sie perfekt beherrscht. Sie könnte sie im Schlaf sprechen, und manchmal tut sie das auch.
Wenn die Fundamentalisten sie dabei ertappten, würden sie ihr Satansanbetung vorwerfen. Sie lassen populäre Songs rückwärts ablaufen und behaupten, versteckte Blasphemien in ihnen zu finden; sie glauben, daß man den Teufel herbeirufen kann, indem man das Kreuz verkehrt herum aufhängt oder das Vaterunser rückwärts aufsagt. Alles Unsinn. Das Böse braucht keine derartigen Beschwörungen, keine derart kindischen Bühnenrituale. Nichts, was derart kompliziert wäre.
Tonys andere Sprache ist nicht böse. Sie ist nur für sie selbst gefährlich. Sie ist ihre Naht, die Stelle, an der sie zusammengenäht ist, die Stelle, an der sie aufplatzen könnte. Trotzdem erlaubt sie sich das immer noch. Eine gefährliche Nostalgie. Eiglatson (Ein Wikingerhäuptling aus dem dunklen Mittelalter? Ein Abführmittel der gehobenen Preisklasse?)
Sie steigt an der St. George Station aus und nimmt den Ausgang Bedford Street, geht vorbei an den Prospektverteilern und dem Blumenverkäufer und dem Jungen, der an der Ecke Flöte spielt, schafft es, nicht überfahren zu werden, als sie bei Grün die Straße überquert, und setzt ihren Weg am Varsity-Stadium vorbei und dann über die runde Rasenfläche des Campus fort. Ihr Büro befindet sich um die Ecke herum in einer der schäbigen alten Seitenstraßen, in einem Gebäude namens McClung Hall.
Die McClung Hall ist ein düsterer Kasten aus roten Backsteinen, die durch Wetter und Ruß zu einem rötlichen Braun nachgedunkelt sind. Tony hat einmal in diesem Gebäude gewohnt, als Studentin, sechs Jahre hintereinander, als die McClung Hall noch ein Frauenwohnheim war. Irgend jemand erzählte ihr einmal, das Gebäude sei nach einer Person benannt, die dazu beigetragen hatte, das Wahlrecht für Frauen durchzusetzen, aber das interessierte sie nicht sonderlich. Es interessierte niemanden, damals.
Tony erinnert sich vor allem daran, daß das Haus eine uralte Feuerfalle war, überheizt, aber zugig, mit knarrenden Fußböden und viel abgenutztem, stumpfem Holz: massive Treppengeländer, klobige Fenstersitze, dicke Türen. Es roch wie eine klamme, von Trockenfäule befallene Spülküche, in der ein Sack keimender Kartoffeln vergessen wurde – und es riecht noch heute so. Aber damals war das Haus außerdem von einem ständigen, ekelerregenden Geruch erfüllt, der aus dem Speisesaal nach oben drang: lauwarmer Kohl, Reste von Rühreiern, verbranntes Fett. Tony drückte sich, wann immer es ging, um die Mahlzeiten dort und schmuggelte statt dessen Brot und Apfel auf ihr Zimmer.
In den siebziger Jahren übernahmen die Vergleichenden Religionswissenschaftler das Gebäude, aber seit damals wurde es in behelfsmäßige Büros für den Überhang verschiedener würdiger, aber verarmter Fakultäten umgewandelt – Menschen, von denen man annimmt, daß sie in erster Linie ihren Kopf und keine eindrucksvollen Maschinen benutzen, nicht sonderlich viel zur modernen Industrie beitragen und von daher auf natürliche Weise an Schäbigkeit angepaßt sind. Die Philosophie hat im Erdgeschoß einen Brückenkopf etabliert, die Geschichte der Neuzeit hat den ersten Stock für sich vereinnahmt. Trotz einiger halbherziger Versuche in Richtung Neuanstrich (bereits vergangen, bereits verblassend) ist die McClung Hall immer noch dasselbe trübselige, ehrbare Gebäude, das sie immer war, tugendhaft und selbstgenügsam wie kalter Haferbrei.
Tony stört sich nicht an dieser Schäbigkeit. Schon als Studentin hat es ihr hier gefallen; das heißt, im Vergleich zu dem, wo sie sonst hätte sein können. In einem möblierten Zimmer, in einem
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