Die Ratten im Maeuseberg
dann, wenn Präsident Mitterrand
beschließen sollte, die Mona Lisa an die Japaner zu verkaufen. Aber die Mona
Lisa ist natürlich ebenso unverkäuflich wie die Tour Montparnasse, der 56
Stockwerke hohe Turm, das kalte Herz des Viertels. 80
Aufzüge führen bis zu 8000 Beschäftigte jeden Tag in die Höhe. 350 Firmen haben
sich dort zu sündhaften Preisen eingemietet. Eine Mannschaft von 35
Feuerwehrleuten, 40 Wächtern und 200 Reinigungskräften steht zum Einsatz
bereit. Tag für Tag liefern die Briefträger 60 000 Briefe ab. Bis unters Dach.
209 Meter und 13 Zentimeter über dem Erdboden.
Anfang der siebziger Jahre
wurde der Turm eingeweiht. Gegen den ebenso heftigen wie erfolglosen Widerstand
von „alten Konservativen und jungen Linken“, wie ein Chronist vermerkt. Er
wurde zum architektonischen Krebsgeschwür, das ein im Lauf der Jahre gebrechlich
gewordenes Quartier befiel und langsam zerstörte. Aber davon war schon die
Rede.
Zu Beginn unseres Jahrhunderts
gab es am Boulevard nur ein kleines reizloses Café, das ,la Rotonde’ hieß und eine ländliche Kneipe, die ,Closerie des Lilas’. Dann kamen
die Maler von Montmartre herüber, die neue Ufer suchten, und bärtige Herren aus
dem weit entfernten Russland, die revolutionäre Reden im Munde führten, die man
im Mutterland der Revolution meist ungestraft halten durfte. Lenin war dabei
und Trotzki und auch Ilja Ehrenburg. Lenin hatte Paris nie gemocht. „Paris ist
in mancher Hinsicht ein dreckiges Loch“, hat er gesagt, „ich verstehe nicht,
was für ein Teufel uns überhaupt hierher geschleppt hat. Es ist eine unbequeme
Stadt, wenn man dort mit bescheidenen Mitteln leben muß, und sehr ermüdend.
Aber um kurze Zeit dort zu sein, auf Besuch oder auf einer Tour, gibt es keine
Stadt, die fröhlicher ist. Das hat mich auf ganz neue Ideen gebracht.“ Lenin
verließ Paris noch vor dem Ersten Weltkrieg — im gleichen Jahr, da auf dem
Montmartre Sacré-Coeur gebaut wurde.
Kaum hatten sich die ,Roten’ abgesetzt, da kamen die Reißen’. Auch das
zaristische Russland sollte in Paris sein Asyl finden. Die Cafés sind
geblieben, neue gesellten sich hinzu. Neben der ,Rotonde’ das ,Sélect’, das
,Dôme’ und die ,Coupole’. Viel bliebe zu erzählen von dieser Zeit, aber Burma
hatte andere Ziele. Schade.
Eine der, wie ich meine,
vortrefflichsten Schilderungen der wilden Zwanziger Jahre am Montparnasse hat
Wolf gang Koeppen niedergeschrieben: „Das Café du Dôme hatte immer etwas von
einem Wartesaal und einem Obdachlosenasyl. Eine Irrenzelle mit verriegelter
Tür, ein Durchgangslager und ein Schiff auf der Fahrt zu immer wieder
entfliehenden Ufern. Lenin, Joyce, Hemingway, Henry Miller, Cocteau, Strawinsky,
Picasso und alle Surrealisten und Dadaisten und der nach seinem frühen Tode zum
Heiligen des Montparnasse erklärte bitterarme, verzweifelte und betrunkene
Modigliani verbrachten auf den harten Lederbänken des Dôme, auf seiner zugigen
oder backofenheißen Terrasse ihre Tage, ihre Nächte, ihr Leben. Sie wechselten
höchstens einmal zu einem ernsten Pumpversuch oder in vorübergehender geistiger
Verwirrung ins Coupole oder die Rotonde hinüber, es spielte sich alles in
diesem wahrhaft magischen Dreieck ab wie später auf Saint-Germain-des-Prés
zwischen der Brasserie Lipp, dem Café Deux Magots und dem Flore.“
In den kleinen Seitenstraßen
des Montparnasse erinnern bretonische Crêperien daran, daß am Bahnhof die Züge
aus der Bretagne ankommen und abfahren. Es gibt eine bretonische Bücherei und
bretonische Folk-Konzerte und in manchen Cafés spielt die Musicbox bretonische
Lieder.
Als Balzac starb, war der
Montparnasse noch ein weitgehend unbeachteter Vorort. Balzac lag fast schon ein
halbes Jahrhundert unter der Erde, als eine renommierte literarische
Gesellschaft an den Bildhauer Rodin den Auftrag vergab, ein Denkmal für den
unvergessenen Schriftsteller auszuarbeiten. Rodin („Ich wollte den von Schulden
geplagten, schlaflosen Vielschreiber zeigen, wie er sich nachts aus dem Bett
erhebt, um einen Gedanken zu Papier zu bringen.“) entschloß sich, Balzac im
Morgenmantel darzustellen, nicht etwa in der Ausgehrobe. Das der Öffentlichkeit
vorgestellte Modell rief einen Aufschrei der Entrüstung hervor. „Mit Erstaunen
hört man“, so empörte sich ein Kritiker, „daß der Bildhauer drei Jahre darauf
verwendet hat, den Schneider Balzacs ausfindig zu machen. Trug der Autor der ,Comédie humaine’ wirklich einen Kohlensack?“
Angewidert
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