Die Ratten
viel über die Menschen gelernt. Sein Leben verlief in stetigem, regelmäßigem Tempo; nicht sehr aufregend, ein Tag fast wie der andere. Keine Fälle von Mord, Raub oder Erpressung - hauptsächlich Scheidungen, Unterschlagungen oder Mietsachen. Immer das gleiche Zeug. Meistens eintönig, oftmals langweilig. Sicher. Er war froh, daß er nicht verheiratet war und sein eigenes Leben führen konnte, ohne sich Sorgen um Kinder, Schulen, Nachbarn, Ratenkäufe und Ferien machen zu müssen. Er blieb für sich und ließ sich nicht in die Probleme andere Leute verwickeln. Davon hatte er genug bei der Arbeit, obwohl er sich nie gefühlsmäßig engagierte. Sein einziges Hobby war die Mitgliedschaft im Kirchenchor, und er freute sich stets auf die wöchentliche Probe und den Gesang am Sonntagmorgen.
Er hob die Brille und rieb sich über den Nasenrücken. Die Montage waren weder deprimierend noch erheiternd für Henry Sutton; ein Tag war wie der andere.
Plötzlich schlingerte die Bahn und bremste mit kreischenden Rädern. Henry Sutton verlor das Gleichgewicht und fiel Violet Melray und Jenny Cooper auf den Schoß.
»O Verzeihung«, stammelte er, und sein Gesicht rötete sich, als er sich hochzog. Andere Passagiere waren in der gleichen mißlichen Lage und rappelten sich auf, einige lachend, andere schimpfend.
»Da haben wir den Salat«, sagte jemand. »Wieder zwanzig Minuten Verspätung.« Er irrte sich. Sie saßen oder standen vierzig Minuten lang unruhig herum und versuchten, die Unterhaltung zwischen dem Fahrer und dem Zugbegleiter über die Bordverständigungsanlage mitzuhören. Henry Sutton, Violet Melray und Jenny Coo-per waren im ersten Wagen und konnten deshalb die Antworten des Fahrers auf die Fragen des Zugbegleiters ziemlich gut verstehen. Der Fahrer hatte etwas auf den Schienen gesehen. Er wußte nicht, was genau, aber es war ziemlich groß gewesen, und so hatte er gebremst und angehalten. Was immer auf den Schienen gewesen sein mochte, ob Mensch oder Tier, es mußte vom Zug überfahren worden sein, und er konnte es nicht mehr ändern. Deshalb war es seiner Meinung nach das beste, weiterzufahren und von der nächsten Station aus eine Crew zurück in den Tunnel zu schicken. Das Dumme war nur, daß er keinen Saft bekommen konnte. Keinen Strom. Es konnte sein, daß etwas am Triebwagen beschädigt worden war, als er etwas überfahren hatte, aber das bezweifelte er. Vielleicht ein schadhaftes Kabel? Er hatte gehört, daß Ratten schon mal Leitungen durchgenagt hatten.
Der Fahrer oder >Wagenführer<, wie er offiziell genannt wurde, hatte Verbindung mit der Zentrale aufgenommen, und man hatte ihn angewiesen, eine Weile zu warten, bis der Schaden ermittelt und behoben war. Doch der Geruch von Rauch zwang ihn, anders zu handeln. Die Fahrgäste nahmen den Rauch zur gleichen Zeit wahr und wurden unruhig.
Die nächste Station, Stepney Green, war nicht sehr weit, er würde die Leute aussteigen und das kurze Stück durch den Tunnel gehen lassen. Bei so vielen Passagieren würde das gefährlich sein, aber es war besser, als eine Panik in den engen, überfüllten Wagen zu riskieren. Er hörte bereits aufgeregte Stimmen aus den nächsten Wagen. Der Wagenführer informierte den Zugbegleiter von seinen Absichten, öffnete die Verbindungstür und sah besorgte Gesichter.
»Alles in Ordnung«, versicherte er mit falscher Zuversicht. »Nur eine kleine Störung. Wir gehen durch den Tunnel zur nächsten Station - es ist nicht weit, und die Schienen werden uns nicht beißen.«
»Aber da brennt was«, sagte ein besorgt aussehender Geschäftsmann mürrisch.
»Stimmt, Sir. Das ist jedoch kein Grund zur Aufregung. Das werden wir bald behoben haben.« Er bahnte sich einen Weg zum anderen Ende des Wagens. »Ich informiere nur die anderen Fahrgäste, und dann komme ich zurück und führe Sie durch den Tunnel.« Er verschwand im nächsten Wagen, und die bestürzten Passagiere blieben in besorgtem Schweigen zurück.
Ein paar Minuten später hörten sie einen Schrei, dem Hilferufe folgten. Die Verbindungstür flog auf, und Passagiere stürzten herein, bahnten sich drängend und schiebend einen Weg in den überfüllten Wagen. Brandgeruch folgte ihnen. Die Hysterie breitete sich aus wie das Feuer, das sie verursacht hatte.
Henry Sutton wurde von neuem auf die beiden weiblichen Passagiere geschleudert.
»Du liebe Zeit«, murmelte er, als ihm die Brille auf die Nasenspitze rutschte. Diesmal verhinderte der Ansturm der Leute, daß er sich von den
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