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Die Ratten

Die Ratten

Titel: Die Ratten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Herbert
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attraktiv, wenn sie nicht zu breit lächelte. Jedenfalls gefiel sie diesem Jungen - das hatte er ihr gesagt. Sie hatte Freunde gehabt, doch keiner davon reichte an Marions üblichen Standard heran. Jenny hatte die Jungen gemocht, sich jedoch immer ein wenig ihretwegen geschämt, wenn sie von ihnen ausgeführt worden war. Diesmal war es anders. Er sah so gut aus wie jeder von Marions Freunden, sogar besser als viele von ihnen. Und er wollte wieder mit ihr ausgehen! Heute abend. Ins Kino. Sie konnte es kaum erwarten, ihren Freundinnen von ihrer neuen Bekanntschaft zu erzählen - Marion würde vor Neid erblassen.
    Violet Melray, die neben Jenny saß, las in ihrem Liebesroman. Sie vertiefte sich immer in romantische Geschichten, wußte genau, wie sich die Heldin in jeder Situation fühlte, litt mit ihr und erlebte ihre Enttäuschung und ihr Glück mit. Sie seufzte leise, als der Held, der seine Reichtümer, seine Frau (dieses böse, hinterhältige Luder) und bei einem Jagdunfall auch noch den rechten Arm verloren hatte, nun zu der Frau zurückkehrte, die er wirklich liebte, zu der Heldin, die so sanftmütig, so rein und so bereit war, ihn wieder in den Armen zu halten, ihn in seinem Kummer zu trösten und alles für diesen Mann zu opfern, der ihr Vertrauen mißbraucht hatte und sie jetzt so sehr brauchte. Violet erinnerte sich, wie romantisch ihr Mann George gewesen war, als er noch um sie geworben hatte. Er hatte ihr Blumen gekauft, kleine Geschenke gemacht und Gedichte geschrieben. Wie aufmerksam er immer gewesen war! Aber jetzt, sechzehn Jahre und drei Kinder später, neigte er mehr dazu, ihr auf den Rücken zu klopfen, als sie zu streicheln. Er war jedoch ein guter Mann, gradlinig und zuverlässig, aber sehr weich.
    George war ein guter Ehemann und ein guter Vater für die Kinder gewesen, stets treu und geduldig. Ihre Liebe war im Laufe der Jahre weniger intensiv, sie war jedoch nicht vergangen wie anscheinend bei den meisten Ehepaaren. Wenn er nur nicht so vernünftig wäre! Jedes Problem nahm er mit seinem Verstand in Angriff, anstatt mit Gefühl; Gefühle wurden von ihm sorgfältig bemessen, er ließ ihnen niemals freien Lauf. Wenn er sie doch nur einmal überraschen würde. Etwas Ungewöhnliches tun würde. Keine Liebesaffäre - aber wenn er vielleicht mal ein Auge auf eine andere Frau werfen würde. Oder beim Pferderennen wetten. Oder betrunken nach Hause kommen. Oder seinem Bruder Albert auf die Nase boxen. Aber nein, sie würde George nicht ändern. Es war nicht seine Schuld, daß sie sich von Zeit zu Zeit nach ein wenig Romantik und Abenteuer sehnte, nach etwas Glanz. Mit 42 sollte sie eigentlich über ihre Sturm- und Drangzeit und den Wunsch nach Abenteuern hinaus sein. Die Kinder waren jetzt auf der Schule und kamen allein zurecht, und sie hatte einen Halbtagsjob in einem Versicherungsbüro angenommen. Die Männer waren ziemlich fade, aber einige der Kolleginnen waren ganz lustig. Jedenfalls war sie vormittags beschäftigt, und sie hatte genug zu tun, wenn die Kinder von der Schule und George von der Arbeit kamen. Violet nahm sich vor, in der Frühstückspause einen neuen Roman zu kaufen.
    Henry Sutton hielt sich am Haltegriff fest, als die Bahn um eine Biegung im Tunnel fuhr. Er versuchte, in der Zeitung zu lesen, aber jedesmal, wenn er sie entfalten und eine Seite umblättern wollte, verlor er fast das Gleichgewicht. Schließlich gab er es auf, schaute hinab auf die Frau, die vor ihm saß und in einem Buch las, und fragte sich, bei welcher Station sie aussteigen mochte. Nein, die Frau würde noch eine Weile bleiben; Leute, die Bücher lesen, fahren immer eine längere Strecke. Das junge Mädchen neben ihr? Nein. Die arbeitete in einem Büro und würde nicht vor der City oder dem West End aussteigen, und der nächste Halt war erst Stepney Green. In den Jahren der Fahrten während der Rushhour war Henry ein Experte im Einschätzen von Leuten und ihren Fahrtzielen geworden. Morgens klappte es nicht so gut - da bekam er selten einen Sitzplatz aber am Abend konnte er recht gut voraussagen, wer ziemlich bald aussteigen würde, und dementsprechend wählte er seinen Platz.
    Henry Sutton hatte einige Regeln aufgestellt. Zum Beispiel: Je schäbiger die Person, desto früher war sie am Zielort; Farbige fuhren nie weiter als bis nach West Ham; gutgekleidete Leute stiegen oft in Mile End auf die Hauptlinie um. In den zwanzig Jahren als Angestellter in einem Anwaltsbüro, ein nüchterner, aber bequemer Job, hatte er

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