Die Rebellen von Irland
von einem älteren Bruder entgegenzunehmen. Insofern bestand eigentlich kein Grund, beleidigt zu sein. Dennoch konnte er sich die Bemerkung nicht verkneifen: »Ich müsste nach Dublin kommen und dir beim Aufbau der Produktion helfen.«
»Ach.« Henry hörte das Sich-Sträuben in seiner eigenen Stimme und fügte rasch hinzu: »In ganz Irland gibt es niemanden, der mich besser beraten könnte, John.«
»Es wird merkwürdig sein, dich nicht mehr hier zu haben«, sagte John traurig.
»Dublin ist von Belfast nicht weit entfernt. Ich werde die ganze Zeit hin und her reisen.«
»Es gilt noch etwas anderes zu bedenken.« Aus Johns Stimme klang Besorgnis. »In Ulster hat man es als Presbyterianer erheblich leichter als in Dublin. Hier sind wir viele und stark, doch in Dublin …« Er sah Henry forschend an. »Du wirst es schwer haben, Bruder.«
Henry erwiderte seinen Blick gelassen. Er hatte über diese Seite der Angelegenheit viel nachgedacht. Er schenkte dem Bruder ein beruhigendes Lächeln.
»Ich werde in Gottes Händen sein«, sagte er.
Es war nicht eben gelogen.
Tidy erkannte auf Anhieb Fortunatus Walsh, der einen prächtigen Fuchswallach ritt und ein Packpferd führte. Fortunatus trug einen langen Mantel und einen verbeulten alten Dreispitz. Aber man konnte auf den ersten Blick sehen, dachte Tidy, dass er ein Gentleman war.
Von den siebzehn noch lebenden Enkeln Faithful Tidys war Isaac Tidy einer der ärmsten. Er war klein, hatte fettiges krauses Haar und ging gebeugt. Aber er hatte Wertvorstellungen. Als junger Mann hatte er sich in mehreren Berufen versucht. Er hatte bei einem Drucker angefangen, da er des Lesens und Schreibens kundig war, aber die stundenlange Schinderei und der Geruch der Druckerschwärze hatten ihm nicht behagt. Also hatte er sich nach einer Stelle als Küster oder Kirchendiener umgetan. Und dabei war er an keinen geringeren als den Dekan der St.-Patrick’s-Kathedrale geraten, der ihn prompt als Diener einstellte. Nun könnte man meinen, dass eine solche Stellung etwas bescheiden sei für einen Mann, dessen Großvater Kapitular von Christ Church gewesen war, wie er jedermann wie nebenbei wissen ließ. »Für jeden anderen«, so sagte er zu seiner Familie, »hätte ich das nicht getan.« Niemand in Dublin hätte bestritten, dass Dekan Jonathan Swift ein Mann von besonderem Format war. Und Tidy identifizierte sich so vollständig mit seinem Herrn und dessen hoher Stellung und machte sich ihm so unentbehrlich, dass er es nur für recht und billig hielt, dass ihn sogar der Diakon mit Mr Tidy anredete, zumal seine eigene respektable Herkunft allseits bekannt war. Dekan Swift, ein Mann von vornehmer Abkunft und Bildung, war ein Gentleman, sonst hätte ihm Tidy nicht seinen Rotwein serviert. Fortunatus Walsh, der Altengländer, protestantisches Mitglied des Dubliner Parlaments mit einem Gut in Fingal, war selbstredend auch einer, und folglich auch dessen Bruder Terence, der Arzt, obgleich er Papist war. Ja, sogar ein alteingesessener irischer Katholik konnte dafür in Frage kommen, sofern er Grundbesitzer oder ein wohlhabender Mann war und glaubhaft von sich behaupten konnte, er sei fürstlicher Abstammung.
Tidy wusste es immer. Er konnte selbst nicht immer sagen, wieso. Aber gewöhnlich brauchte er nur wenige Sekunden oder höchstens ein oder zwei Minuten, um einem Mann erfolgreich auf den Zahn zu fühlen. Und dieser Mann konnte noch so vornehm tun, wenn er nicht wirklich zur Gentry gehörte, blieb es Tidy nicht verborgen.
Als die Neuankömmlinge sich nun also Quilca näherten, richtete Tidy sein Augenmerk auf den dunkelhaarigen jungen Mann, der neben Fortunatus ritt. Seine Kleidung war unordentlich und abgetragen. Doch das musste nichts heißen. Dazu trug er einen alten Dreispitz. Woher er den wohl hatte? War es sein eigener oder hatte er ihn sich von Fortunatus geliehen? Doch das Befremdlichste war, dass Fortunatus einen rundum zufriedenen Eindruck machte, obwohl ihm sein Begleiter keinerlei Beachtung zu schenken schien. Obwohl sie nebeneinander her ritten, las der junge Mann in einem Buch. Würde ein Gentleman so etwas tun? Ausnahmsweise einmal war sich Tidy seiner Sache nicht sicher.
***
Fortunatus war sehr mit sich zufrieden, als sie in Quilca ankamen. Er wusste zwar, dass Terence vor seiner Abreise nach Frankreich dem jungen Smith eingeschärft hatte, sich anständig zu benehmen. Gleichwohl war es eine glänzende Idee von ihm gewesen, den jungen Mann mit einem Buch zu
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